Am 4. Juni 1989 begaben sich die Mitglieder des Breslauer "Klubs der Katholischen Intelligenz" (KIK), gemeinsam mit den sie begleitenden Freunden aus den USA, den Niederlanden und den beiden deutschen Staaten, nach Kreisau. Dort beschlossen sie – vor den Ruinen des Schlosses der Familie von Moltke stehend –, ein europäisches Jugendbegegnungszentrum aufzubauen. So entstand die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, eine der interessantesten und lebendigsten zivilgesellschaftlichen Initiativen in Ostmitteleuropa. Ihre Geschichte kann eine Quelle der Inspiration und Hoffnung sein – in Zeiten der Krise des europäischen Projekts, der wachsenden Polarisierung unserer Gesellschaft und der Passivität der Bürger.
Die treibende Kraft von Vision und Entschlossenheit
Seit ihrer Entstehung führte die Stiftung Kreisau tausende mehrtägige Bildungsprojekte durch, an denen zigtausende junge Menschen aus nahezu allen europäischen Ländern, hauptsächlich aus Polen und Deutschland, teilnahmen. Alles begann dabei mit einer vollkommen utopischen Vision. Am 4. Juni 1989 war das Schloss in Kreisau im Begriff zu verfallen. Die Kommunisten hielten die Macht sowohl in Polen als auch in ganz Osteuropa immer noch in ihren Händen. In Polen waren noch, ähnlich wie in der DDR, zahlreiche Einheiten der Roten Armee stationiert. Wie konnte man unter diesen Umständen daran glauben, dass es – hier und jetzt – gelingen wird, eine europäische Begegnungsstätte aufzubauen? Und dennoch – es hat geklappt. Ausschlaggebend waren Vision und Entschlossenheit.
Die Kraft der Bürger
Aber auch die Kraft der Bürger. Sie waren es, die das neue Kreisau erfunden haben, sie waren es auch, die zu dessen Entstehung geführt haben. Und sie sind es schließlich, die seit dreißig Jahren Gastgeber der Stiftung sind und deren Tätigkeit animieren. Sie bauten ein Netzwerk internationaler Partnerschaften auf und erarbeiteten Programme zur historischen, zivilgesellschaftlichen und ökologischen Bildung, die bei Jugendlichen aus vielen Ländern Anerkennung finden. Dabei mussten sie mit enormen Schwierigkeiten – organisatorischer, finanzieller und programmatischer Natur – kämpfen. Und sie haben es geschafft. Die Stiftung existiert und entwickelt sich weiterhin.
Die Klugheit des Staates
Ohne die Unterstützung des Staates – oder vielmehr zweier Staaten – wäre dies allerdings nicht möglich gewesen. Die Regierungen Polens und Deutschlands unterstützten die Stiftung jahrelang, ohne sie dabei für sich zu vereinnahmen. So kam es nie zu einem Versuch, Druck auf die Personalpolitik oder das Programmangebot der Stiftung auszuüben. Die Regierungen setzten sich für Kreisau ein und respektierten dabei die Autonomie dieser zivilgesellschaftlichen Initiative. Die Stiftung enttäuschte das ihr entgegengebrachte Vertrauen nicht. Sie schuf einen Raum für Dialog und europäische Verständigung – auf dem Fundament der historischen Wahrheit sowie mit Respekt für die nationalen und weltanschaulichen Befindlichkeiten aller Beteiligten.
Die Bedeutung von Begegnung und Bildung
Die Auswirkung der Bildungstätigkeit der Stiftung lässt sich schwer ermessen. Tatsache ist aber, dass es unter Menschen der jüngeren Generation, die sich beruflich oder sozial in Deutschland dafür engagieren, die deutsch-polnische Zusammenarbeit zu vertiefen, kaum jemanden gibt, der zuvor nicht an Projekten der Begegnungsstätten in Kreisau oder Oświęcim teilgenommen hat. Die Erfahrung der Begegnung, des Dialogs, der Auseinandersetzung mit der schwierigen Geschichte weckt Interesse, mitunter gar Faszination für das Land des Nachbarn und stellt einen Handlungsimperativ dar. So wächst das Netzwerk von Menschen, die die deutsch-polnische – auf gegenseitigem Verständnis und Respekt basierende – Nachbarschaft vertiefen.
Raum für Verständigung
Die Stiftung war von Anfang an im Geiste einer Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg aktiv. Sie entstand und entwickelt sich im Ergebnis der Begegnung und des Dialogs von Polen, Deutschen und Vertreter*innen anderer Völker mit sehr verschiedenen Weltanschauungen. Nicht selten traten unter ihnen Konflikten zutage. Letztlich kam es aber fast immer zu einer Verständigung und dem gemeinsamen erarbeiten optimaler Lösungen. In ähnlichem Geiste werden auch die Bildungsprojekte der Stiftung umgesetzt. Obwohl daran Menschen aus vielen Ländern mit unterschiedlichen Erfahrungen und Anschauungen teilnehmen, kommt es unter ihnen kaum zu Konflikten. Im Gegenteil: Da sie im Geiste des Respekts, des Dialogs und der Verständigung handeln, gelingt es ihnen, den Raum der Gemeinschaft immer weiter auszubauen und den Reichtum der Vielfalt wertzuschätzen.
Das Potential des Vorbilds
Im November 1989 fand in Kreisau die Versöhnungsmesse unter Teilnahme des polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki und des Bundeskanzlers Helmut Kohl statt. Der Prozess des Aufbaus guter Beziehungen zwischen Polen und Deutschen ist – obgleich er immer noch nicht abgeschlossen ist – ein Zeichen der Hoffnung und eine Inspirationsquelle für andere. In der zweiten Junihälfte 2019 findet in Kreisau die inzwischen dritte Auflage des Projekts „Erinnerung, Verständigung, Zukunft” statt, das von der Stiftung Kreisau in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen und dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt wird. Ziel ist es, sogenannte "Young Leaders" – junge Führungskräfte – des gesellschaftlichen Lebens in den bis vor Kurzem von Krieg und Gewalt betroffenen Staaten des Westbalkans dabei zu unterstützten, für eine Kultur des Dialogs und der Verständigung zu werben. Die Tränen in den Augen unserer Gäste, als sie über die Altstadtbrücke von Zgorzelec nach Görlitz gingen und dabei aus dem Staunen darüber, dass man eine Grenze passieren kann, ohne es überhaupt zu merken, nicht herauskamen, werde ich nicht vergessen. Bei ihnen gibt es an den Grenzen immer noch Stacheldraht.
Das Erbe der Hoffnung
Wir befinden uns in einer schwierigen Zeit.. Wir fürchten uns um die Zukunft der Europäischen Union, das Ausmaß der politischen Konflikte in vielen europäischen Ländern, darunter auch in Polen, macht uns Sorgen. Wir stehen vor enormen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel und den Massenmigrationen aus den von Elend und Gewalt betroffenen Regionen der Welt. Bevor wir die Hoffnung an die gute Zukunft und an den Sinn der ergriffenen Initiativen aufgeben, denken wir mal wieder an die Handvoll Idealisten, die vor dreißig Jahren vor den Ruinen des Schlosses in Kreisau standen, an deren utopische Vision und die Früchte, die sie gebracht hat. Sie haben es geschafft. Auch wir haben eine Chance dazu.
Dr. Robert Żurek
Geschäftsführender Vorstand
der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung