Sprachnotdienst aus Kreisau
19.05.2020, Lucyna Boryczko
Schon seit zwei Monaten wird im polnischen Schulsystem aus der Ferne gelehrt und gelernt. Ein großes Thema ist dabei die immer deutlicher sichtbare Spaltung der Gesellschaft und die Ausgrenzung, von der eine verhältnismäßig große Gruppe von Schülerinnen und Schülern betroffen ist. Dabei ist am häufigsten zum einen von Familien, die die erforderlichen technischen Geräte nicht besitzen und zum anderen von dysfunktionalen Familien die Rede. Es gibt aber leider neben den digital und den gesellschaftlich und ökonomisch ausgegrenzten auch noch andere Gruppen, die die negativen Folgen des Fernunterrichts empfindlich zu spüren bekommen. Darunter sind viele Schüler*innen mit Migrationshintergrund.
Um deren schwierige Situation zu verstehen reicht es darüber nachzudenken, wie der Fernunterricht in Familien aussieht, in denen die Eltern Polnisch sprechen. Vor unserem geistigen Auge (oder auch, falls wir Kinder haben, mit unseren Augen) sehen wir das einigermaßen witzige Bild der Bewohner*innen eines Haushalts, die sich, oft auf nur wenigen Quadratmetern, bemühen, ihren bisherigen Verpflichtungen nachzukommen – Arbeit und Lernen, aus Büros und Schulen mitgebracht in die häusliche Abgeschiedenheit. Das letzte erzeugt schon ein Lächeln auf unserem Gesicht. Wo ist sie geblieben, die Ruhe der häuslichen Geborgenheit. Eltern, oft unsicher, was die Zukunft bringt, versuchen um jeden Preis den beruflichen Pflichten nachzukommen – antworten auf Emails, nehmen Telefonate an, während sie praktisch zur selben Zeit kochen, Konflikte zwischen den Kindern schlichten und den Zugang zu den vorhandenen Computern managen. Zusätzlich müssen sie immer wieder die Rolle der Lehrkraft der eigenen Kindern übernehmen. Eine einfache Angelegenheit? Dann stellen wir uns jetzt einmal vor, dass wir nicht oder nur schlecht polnisch sprechen und unsere Kinder am Fernunterricht in genau dieser Sprache teilnehmen.
Und wie sieht es aus Perspektive der Kinder aus? Zu den Problemen, mit denen ihre Altersgenossen klar kommen müssen, kommt noch eine Desorientierung hinzu, als Folge der neuen, veränderten pädagogischen Anforderungen. Jetzt spüren sie, noch stärker als bisher, die Folgen davon, dass die polnischen Schulen nicht auf den Unterricht junger Migrant*innen vorbereitet sind.
Aus diesem Grund hat die Stiftung Kreisau beschlossen, den Bedürfnissen der Schüler*innen und Lehrer*innen entgegenzukommen und einen „Sprachnotdienst“ ins Leben gerufen. Die Welt können wir nicht retten aber vielleicht unterstützen wir wenigstens einige Menschen. Im folgenden möchte ich einige Gedanken teilen, die die Unterstützung von Schüler*innen mit Migrationshintergrund im Fernunterricht betreffen.
- Schaffe eine Atmosphäre, die es dem/der Lernenden ermöglicht, seine/ihre Sorgen und Probleme zum Ausdruck zu bringen. Höre zu, was er oder sie sagt! Erlaube ihr oder ihm, sich auszusprechen!
- Gib Dir selbst wie auch ihm/ihr Zeit. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut😉. An die neue Situation muss man sich gewöhnen, man muss lernen die technologischen Möglichkeiten zu nutzen und vor allem muss man sich gegenseitig kennen lernen.
- Überlege, was die tatsächlichen Bedürfnisse des Schülers / der Schülerin sind. Diagnosiere die Probleme und versuche, ihre Ursachen zu verstehen.
- Passe die von Dir verwendeten Methoden an die Bedürfnisse an. Überlege, welche Möglichkeiten es in der aktuellen Situation gibt, berücksichtige dabei sowohl psychologische Aspekte, wie auch die pädagogische Situation (wie auch die häusliche, wenn das möglich ist), und schließlich auch die technologischen Möglichkeiten.
- Nutze, wenn es nur irgend möglich ist, für Deine Arbeiten die Segnungen der Technik. Nutze sie, um den Unterricht zu bereichern und die Aufmerksamkeit des Lernenden wach zu halten. Mit Hilfe von LernApps können wir verschiedene Inhalte vermitteln, sprachliche Fertigkeiten entwicklen (Schreiben, Lesen, Sprechen und Hören), die einzelnen Elemente der sprachlichen Subsysteme üben. Zeige dem Schüler / der Schülerin, wie man Internetwörterbücher, mehrsprachige Nachschlagwerke und Übersetzungsprogramme (kritisch!) nutzen kann.
- „Do not harm” – unsere Tätigkeiten müssen in der aktuellen, schwierigen Lage verantwortlich sein, daher ist es angezeigt, sich an die Regel zu halten, in erster Linie nicht zu schaden. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Schüler / die Schülerin aus irgendeinem Grund zu uns gekommen ist und wir müssen alles tun, um seine / ihre Situation zu verbessern. Wir sollten keinen zusätzlichen Streß durch Extraaufgaben erzeugen.
- Sorgen wir dafür, dass der Unterricht nicht nur angenehm und ruhig, sondern auch interessant verläuft 😊. Es ist nicht einfach einen Schüler / eine Schülerin zum Lernen zu motivieren, der im Lernalltag mit Niederlagen konfrontiert ist. Habe einige Methoden in der Hinterhand, die Helfen können, Motivation zu finden.
- Nichts mit Gewalt und nichts auf die Schnelle.
Ich hoffe, dass der Fernunterricht, so wie er im Augenblick stattfindet, bald aufhört. Aber was passiert ist, dass lässt sich nicht rückgängig machen, die Folgen werden von Schülerinnen und Schülern noch lange zu spüren sein. Es ist gut, dass in dieser schwierigen Zeit etwas Positives entstehen konnte, und die jetzt erarbeiteten Methoden werden sicher auch in Zunkunft nützlich sein.