2019 ist für uns – diejenigen, die sich für den deutsch-polnischen Dialog engagieren und die sich mit Kreisau verbunden fühlen –, ein besonderes Jahr. Es ist ein Jahr, das reich an Symbolen ist. Für die Stiftung Kreisau steht das Jahr 2019 vor allen Dingen für den 30. Jahrestag zweier Ereignisse, die zu Grundsteinen geworden sind – nicht nur für deren Gründung, sondern auch für die Werte, um die herum sie aufgebaut wurde.
Vor dreißig Jahren, in der Zeit vom 2. bis zum 4. Juni 1989, fand in Breslau eine internationale Konferenz unter dem Titel „Christ in der Gesellschaft“ statt, die von dem Breslauer Klub der Katholischen Intelligenz (KIK) veranstaltet wurde. Eben damals, am Vorabend der Juniwahlen in Polen, in einer Stimmung der Erwartung auf Veränderungen, die nicht nur Polen, sondern auch ganz Mitteleuropa erfassen sollten, wurde im Kreise der Teilnehmer die Entscheidung getroffen, Anstrengungen zur Gründung einer internationalen Begegnungsstätte in Kreisau zu unternehmen – einem Ort, der zu einem Raum für freien und offenen Dialog für junge Menschen, insbesondere aus Polen und Deutschland, werden sollte.
Die oben genannten Aktivitäten, die von den Kreisen und Gruppen initiiert wurden, die seit vielen Jahren die deutsch-polnische Verständigung unterstützten, lieferten zugleich den Grund dafür, warum eben in Kreisau und nicht an einem anderen Ort, am 12. November 1989 eine Heilige Messe gefeiert wurde, die als die deutsch-polnische Versöhnungsmesse in die Geschichte einging. In dem in zwei feindliche Blöcke geteilten Europa, das sich noch an die Tragödie des Zweiten Weltkrieges sehr gut erinnern konnte, war die religiöse Zeremonie, bei der nebeneinander der polnische Ministerpräsident und der deutsche Kanzler standen, per se schon ein Ereignis. Mit einer einzigen Geste, die über die formalen, der Zeremonie zugehörigen Rituale hinausging, erlangte dieses (politische) Ereignis den Rang eines Symbols und wurde damit für viele zum Versprechen eines neuen Kapitels in den Beziehungen zwischen den Nachbarn, die durch die tragische Geschichte getrennt waren.
Heute, zu Beginn des Jahres 2019, stehen die vorstehend genannten Ereignisse, sowohl die KIK-Tagung, vor allem aber die Versöhnungsmesse, aufgrund ihres 30. Jahrestages auf eine besondere Weise im Mittelpunkt des Interesses von Kreisau. Beide stellen nämlich Momente dar, ohne die es zur Gründung der Stiftung Kreisau nicht gekommen wäre.
Die Schlüsselaufgabe, vor der wir nun stehen, ist aber, dafür zu sorgen, dass sich in diesem Jahr – sowie in allen kommenden – das Begehen von Jahrestagen nicht nur darin erschöpft, dass runde Zahlen prachtvoll gefeiert werden. Das Wesen der Erinnerungsrituale sollte nämlich nicht nur darin bestehen, die Vergangenheit in Erinnerung zu rufen, sondern vor allem kritische Fragen zu formulieren, etwa solche, welche Bedeutung für uns, die hier und jetzt leben, Dialog, Verständigung und Aussöhnung haben – in einem Europa, an dem Populismen immer wieder zerren. Wir möchten uns auch fragen, wie das Wissen um die Vergangenheit, aber auch die Tradition weiterer Gedenken, weiterer Jahrestage, uns – als die nächste Generation der Europäer – prägen. Eine Generation, die im Frieden und Wohlstand aufgewachsen ist und die die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, an die deutschen Verbrechen an den Polen sowie an die schwierige deutsch-polnische Aussöhnung nur deshalb pflegt, um daraus die für uns notwendige Lehre zu ziehen. Der Unwille bzw. die Unfähigkeit, Verantwortung für das kollektive Wohl zu übernehmen, der extrem ausgeprägte kapitalistische Individualismus und der Populismus führen jeweils zu Spaltungen, Spannungen und Auseinandersetzungen. Das einzige bewährte Gegenmittel gegen diese Krankheiten sind Bildung und Dialog mit dem Anderen. Eben deshalb sind für uns – für Kreisau – diese Jahrestage so wichtig. Wir möchten, dass die Erinnerung an das Werk der deutsch-polnischen Aussöhnung für uns zu einer Inspirationsquelle und zu einem Anreiz dafür wird, eine bessere Zukunft aufzubauen. Für uns und für diejenigen, die nach uns kommen werden.
Prof. Dr. habil. Waldemar Czachur
Ratsvorsitzender der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung