[Der Beitrag „Kreisau – Versöhnung in der Praxis” erschien ursprünglich in der Zeitschrift MOCAK Forumeinem Verlagsprojekt, das vom Museum für Gegenwartskunst MOCAK in Krakau umgesetzt wird. Der Text wurde der Ausgabe Nr. 1/2020 entnommen, in der es um Herausforderungen der Bildung ging. Wir bedanken uns bei der Autorin und beim Verlag recht herzlich für die Möglichkeit, den vollständigen Text veröffentlichen zu dürfen. Am Seitenende finden Sie auch eine PDF-Datei mit dem Artikel in polnischer Sprache.]

Stellen Sie sich einen Ort vor, an dem ein Traum wahr geworden ist. In einem ehemaligen PGR (staatlicher landwirtschaftlicher Betrieb), umgeben von verfallenen Wirtschaftsgebäuden und einem Schloss mit einem löchrigen Dach, trafen sich die Staatsoberhäupter zweier vom Kriegstrauma belasteter Länder. Mit einer gemeinsamen Anstrengung schufen Polen und Deutsche, unterstützt von Freunden aus anderen Ländern, an diesem Ort – im niederschlesischen Dorf Kreisau – eine internationale Begegnungsstätte.

Es war 1989. Polen löste sich vom Kommunismus, Deutschland war auf dem Weg zur Wiedervereinigung. Architekten, Ingenieure und Gärtner begannen, Brücken über die Gräben zu bauen – trotz der schwierigen gemeinsamen Geschichte, unterschiedlicher Rechtssysteme, Versorgungsengpässe und Transportprobleme. Es wurde beschlossen, in internationalen Teams zu arbeiten, obwohl es mit Kollegen aus dem eigenen Land schneller und einfacher gewesen wäre.

Die Zeit spielte eine wichtige Rolle. Die Idee einer internationalen Konferenz über die außergewöhnliche Geschichte von Kreisau und der dort aktiven deutschen Anti-Nazi-Opposition – dem Kreisauer Kreis – entstand in Breslau im Klub der Katholischen Intelligenz[1]. Dieses Treffen gab der Bürgerbewegung den Anstoß zur Errichtung einer Internationale Begegnungsstätte in Kreisau. Die Idee erschien vielen damals unrealistisch.

Die Konferenz endete am 4. Juni 1989, dem Tag der Parlamentswahlen. Einige Monate später wurde beschlossen, dass in Kreisau eine Versöhnungsmesse unter Beteiligung des neuen, nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl stattfinden sollte. Die Zeremonie fand am 12. November 1989 statt, nur drei Tage nach dem Fall der Berliner Mauer. Ihr Fragment steht heute wie ein Denkmal neben dem renovierten Schloss.

In dem ehemaligen Landgut, das vor dem Krieg der deutschen Familie von Moltke gehörte, ist seit 30 Jahren die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung tätig. Sie organisiert zahlreiche Austauschmaßnahmen für Schulklassen aus Polen und Deutschland. Auch junge Menschen aus der Ukraine, Rumänien, Estland, Bosnien und Serbien kommen hierher. Die Stiftung führt über 100 Projekte pro Jahr durch, viele davon in Partnerschaft mit der deutschen Kreisau-Initiative e.V. und anderen Organisationen in Europa. In Kreisau werden jeden Tag Brücken zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern aufgebaut.

Teilnehmende einiger Bildungsinitiativen – zum Beispiel Simulationen von Sitzungen des Internationalen Strafgerichtshofs – waren Studierende aus mehreren Kontinenten. Sie schlüpften in die Rollen von Staatsanwälten, Verteidigern, Richtern und Journalisten; sie lernten etwas über Menschenrechte und die Geschichte von Konflikten. Für die Teilnehmenden, unter anderem aus dem Libanon, Südafrika, den USA, der Türkei, Armenien, Vietnam, Kambodscha oder Ruanda, war das niederschlesische Dorf Kreisau die erste Begegnung mit Polen. Mit Interesse beobachteten sie junge Paare aus der Umgebung, die auf dem Gelände bei ihren Hochzeits-Fotoshootings posierten.


Ein riesiger Platz, umgeben von einer Allee und Gebäuden des ehemaligen Landguts, zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist eine Agora, ein Markt, ein Zentrum. Sie können auf dem Rasen laufen, Tore darauf aufstellen und ein Fußballspiel organisieren. Hier finden die Integrationsaktivitäten statt. Der Raum ist so organisiert, dass er Begegnungen mit anderen Menschen begünstigt. Hier gibt es keine Verbote, sondern eine Aufforderung, Verantwortung für das zu übernehmen, was geteilt wird. 

Internationale Begegnungen im Pferdestall und Schloss

Die Rasenfläche ist von Gebäuden umgeben, deren Namen auf ihre früheren Funktionen verweisen. Die BesucherInnen sind überrascht, wenn sie Schlüssel für Räume im Speicher oder im Pferdestall erhalten. Sie essen ihre Mahlzeiten in einem ehemaligen Kuhstall (am Eingang hängt ein Foto von Kühen, die hier früher lebten, wo jetzt die Tische stehen). Für Besprechungen gehen sie in den ehemaligen Pferdestall oder in das Schloss.

Die non-formale Bildung beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, basiert auf den Ressourcen der Gruppe, dem Beitrag aller Mitglieder. Sie setzt den Verzicht auf Hierarchie zugunsten von Partnerschaft und gegenseitigem Respekt voraus. Die TrainerInnen achten darauf, dass jeder eine Rolle für sich in den gemeinsamen Aktivitäten finden sollte.

Ein Thema für sich bei der Arbeit mit internationalen Gruppen ist die Sprachanimation, die auf Integration, Unterstützung der Kommunikation und Zusammenarbeit abzielt. Sie engagiert, ermutigt zum Handeln und reduziert das Stressniveau.

Als Trainerin schätze ich die Tatsache, dass das Schloss in Kreisau zu einem Ort der Bildungsaktivitäten geworden ist. Es ist kein separates, einschüchterndes Objekt für besondere Gäste. Es ist für alle da: man kann eintreten, die Ausstattung anfassen, oder hier ohne Aufsicht von Erwachsenen die Pause verbringen. Dadurch wird die Verantwortung für das Wohl der Gemeinschaft gefördert. Menschen, die als vertrauenswürdig angesehen werden, verhalten sich so.

Wenn ich bei den Workshops im Festsaal Aufgaben in kleinen Gruppen vorschlage, sitzen einige Teilnehmende an einem eleganten Kachelofen, andere an einem Tisch mit Grammophon, der Rest am Kamin. Im ersten Stock steht mir ein Raum mit einem Projektor, einer Leinwand und modernen Schienen[A1]  an den Wänden zur Verfügung, an denen Karten und Diagramme leicht befestigt werden können. Im Schlosskeller treffen sich junge Leute nach dem Unterricht, um Tischtennis zu spielen oder Karaoke zu singen.

Die Rolle des Individuums in der Geschichte

Teil des Campus ist die Freilichtausstellung Mut und Versöhnung über die deutsch-polnischen Beziehungen von 1939 bis 1989. Im Labyrinth der modernen Metallkonstruktionen erfahren wir etwas über die Kriegsereignisse, die Phase der Nachkriegsfeindschaft, den Prozess der Versöhnung, die Zusammenarbeit zwischen den Oppositionellen aus Polen und der DDR sowie über die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten – die Gründung der Solidarność, die deutsche Paket-Aktion an Polen während des Kriegsrechts. In unserer Arbeit mit jungen Menschen betonen wir die Rolle des Individuums in der Geschichte. So hat die deutsch-polnische Versöhnung konkrete Gesichter, darunter Erzbischof Bolesław Kominek, Tadeusz Mazowiecki, Stanisław Stomma und der Gründer der Aktion Sühnezeichen Günter Särchen, sowie des ostdeutschen Oppositionellen Ludwig Mehlhorn.

Die Führung durch das ehemalige Landgut – ein fester Bestandteil unserer Arbeit mit internationalen Gruppen – bietet einen Anlass, um sowohl die deutsche als auch die polnische Geschichte des Dorfes Kreisau (Krzyżowa nach dem Zweiten Weltkrieg) und das Schicksal seiner Bewohner zu erzählen.

Im Berghaus, abseits, hinter dem Schloss und der Eichenallee gelegen, traf sich während des Krieges eine deutsche Widerstands-Gruppe, bekannt als Kreisauer Kreis. Angeführt wurde sie von Helmuth James von Moltke, dem damaligen Besitzer des Gutes, und Peter Yorck von Wartenburg, einem deutschen Juristen und Beamten. Der Kreisauer Kreis setzte sich aus Menschen verschiedener Religionen und politischer Ansichten zusammen. Sie wollten die Niederlage der Nazis und obwohl der Krieg noch andauerte, planten sie das politische System für das zukünftige demokratische Deutschland. Unter dem Deckmantel gesellschaftlicher Zusammenkünfte in einem Haus auf dem Lande entwarfen sie das Konzept einer neuen Verfassung, planten die Bestrafung von Kriegsverbrechern und Reparationszahlungen an die von Deutschland angegriffenen Länder. Sie diskutierten über die Zusammenarbeit der Länder in Europa, damit ein Krieg in Zukunft nicht mehr möglich ist. Sie zogen die Idee der Vereinigung in Betracht.

Für die deutschen Lehrer ist der Besuch der Begegnungsstätte des Kreisauer Kreises, von dem die deutschen Jugendlichen in der Schule hören, ein wichtiger Grund, hierher zu kommen. Gruppen aus Polen verbinden den Widerstand während des Krieges eher mit dem bewaffneten Kampf, vom Kreisauer Kreis erfahren sie oft erst vor Ort. Sie lernen eine neue Sichtweise kennen: Die Helden sind die Menschen, die intellektuell gearbeitet und die gesellschaftliche Ordnung der Nachkriegszeit geplant haben.

Internationale Gruppen besuchen auch oft Ziele außerhalb Kreisaus. Sie entdecken die multikulturelle Geschichte von Breslau. Deutsche Gruppen fragen manchmal nach einem Besuch des nahegelegenen ehemaligen Konzentrationslagers Groß-Rosen in Rogoźnica. Wir sprechen dann darüber, woran sich die jungen Menschen aus Polen und Deutschland erinnern, was sie bewegt hat, was sie gelernt haben – sowohl auf der Ebene der Fakten als auch der Emotionen; was die Worte eines ehemaligen Häftlings von Groß-Rosen, zu vergeben, aber nicht zu vergessen, für sie bedeuten. 

Bei internationalen Projekten für Lehrer und Mitarbeiter von Bildungseinrichtungen, die sich mit dem Thema Holocaust befassen, verbringen die Gruppen mehrere Tage in Kreisau und fahren dann gemeinsam nach Auschwitz. Sie besuchen die Gedenkstätte und das Museum Auschwitz-Birkenau mit einem Guide. Das Programm des einwöchigen Projekts könnte Gegenstand einer separaten Studie sein. Hier kann ich rückblickend nur raten, dass man sich ausreichend Zeit nimmt für den Aufbau von Beziehungen innerhalb der Gruppe, die inhaltliche Vorbereitung, das Erkennen der Motivation für die Beschäftigung mit diesem Thema und die Werte, die man vermitteln möchte. Es ist auch wichtig, das Bewusstsein für die Fakten der Vergangenheit zu schärfen, die immer noch nicht ausreichend präsent sind und im dominanten Diskurs der Länder, aus denen die Teilnehmer kommen, marginalisiert werden.

Mut und Werte

Es ist wichtig, dass man mit Erwachsenen und mit jungen Menschen sowohl über die Vergangenheit spricht, über die Entscheidungen, die die Menschen damals getroffen haben, als auch Bedingungen schafft, um über die Herausforderungen, denen sie jetzt gegenüberstehen, und über die Werte in ihrem Leben nachzudenken. Und dass man sie dazu ermutigt, eigene Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. In den Workshops sprechen wir über den Widerstand gegen das Böse. Wir initiieren Diskussionen. Wir fragen zum Beispiel: „In welcher Situation habt ihr euch für das eingesetzt, was euch wichtig ist? Wann habt ihr Mut gezeigt?“

Die Jugendlichen tauschen sich in Kleingruppen über ihre eigenen Erfahrungen aus und bereiten auf der Grundlage der erzählten Geschichten Theaterszenen vor. Wir schauen sie dann gemeinsam an. Jemand verteidigte einen ausländischen Kollegen vor einer Schlägerei, ein anderer berief sich auf die Schulsatzung, damit die Klasse eine dritte Klassenarbeit am selben Tag vermeidet, jemand nimmt regelmäßig an den von Greta Thunberg initiierten Demonstrationen teil – den sogenannten „Freitagen für das Klima“. Wir sprechen über die Risiken, die mit der Verteidigung der eigenen Werte verbunden sind, über Mut und den Preis, den man in Zeiten des Friedens und des Krieges dafür zahlt. Einer der Teilnehmer – er entschied sich, allein vor der Gruppe zu stehen – erzählte uns von seinem Urgroßvater, einem Wachmann in einem Konzentrationslager. Dies war einer der Momente, in denen die Zuhörer erkennen, dass ihre Wahl – Offenheit, eine Geste der Akzeptanz oder der Ablehnung – die Qualität der gemeinsam verbrachten Zeit bestimmt. Sie konfrontieren sich mit ihrem Gefühl der Loyalität zu ihrer nationalen Gemeinschaft, zu ihren Vorfahren und ihrer Tragödie. Die nächste Generation übernimmt die Last der Versöhnung. Sie trifft Entscheidungen.

Als Trainerin erlebe ich öffentliche Gesten – rührende Entschuldigungen dafür, dass man eine andere Person verletzt hat, das Geben einer zweiten Chance.

Ich sehe zaghafte Versuche, sich aus der Opferrolle zu befreien, das Trauma der Familie beiseite zu schieben. Als Pädagogen folgen wir diesen Entscheidungen, wir unterstützen mit unserer Erfahrung, was der Entwicklung der jungen Menschen zu dienen scheint.

Kollektive Erinnerung

Beim internationalen Austausch wird die Kommunikation durch kulturelle Unterschiede beeinflusst, „es kommt zur Konfrontation mit Sprache, Regeln und Normen, die sich von unseren unterscheiden“[2].

Ein solcher Unterschied ist die Bereitschaft, in der Öffentlichkeit zu sprechen, sich das Recht zu einzuräumen, einen Fehler zu machen. Ich stelle immer wieder fest, dass junge Menschen aus ehemals kommunistischen Ländern trotz ihres Wissens und Denkens oft lieber schweigen, als einen sprachlichen Fehler zu riskieren. Wir arbeiten an der Veränderung von Gewohnheiten, an der Überschreitung von Grenzen.

Im Projekt Meine Geschichte – Deine Geschichte erleben Jugendliche aus Polen und Deutschland, dass die kollektive Erinnerung, „die Vorstellung, die Mitglieder einer sozialen Gruppe über ihre Vergangenheit teilen“, in beiden Ländern unterschiedlich ist.[3]

In den Workshops fragen wir, wo wir Wissen über die Vergangenheit finden können. Es gibt viele Antworten: Museen, Filme, Kriegslieder, Erzählungen der Großeltern, Bücher, Karten, das Internet. Und natürlich die Schule. Junge Menschen konfrontieren sich mit den Erzählungen über die Vergangenheit aus ihren Schulbüchern und denen ihrer Kollegen aus dem Ausland. Ereignisse, die für ein Land wichtig sind, werden in der Schule des Nachbarlandes wenig oder gar nicht beachtet. Warum? Wer hat Recht? Und wer entscheidet über die Hierarchie dessen, was erinnerungswürdig ist? Die Veranstaltung bringt das kritische Denken bei und problematisiert die Wahrnehmung von Geschichte als Wissenschaft.

Familiengeschichten

Anna Wylegała weist in ihrem Buch mit dem Titel Przesiedlenia a pamięć (Umsiedlungen und Erinnerung) auf die traumatischen Erfahrungen hin, die die Identität der Region beeinflussen:

„Das Nachkriegsaussehen jenes Teils Europas, das gewöhnlich als Mittel- oder Mittelosteuropa bezeichneten wird, ist von zwei großen historischen Erfahrungen geprägt: dem Zweiten Weltkrieg als totalem Krieg und den ethnischen Säuberungen und Völkermorden, die in der Region mit Stalins Repressionen in den 1930er Jahren begannen und noch lange nach Kriegsende andauerten. [...] Wenn wir die Ebene der Identität und der kollektiven Erinnerung betrachten, muss zu diesen beiden Faktoren zweifellos ein dritter hinzukommen, der eine direkte Folge von ihnen ist: Massenvertreibungen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß" [4].

Zwangsmigration ist auch eine Geschichte des niederschlesischen Dorfes Kreisau. Eine öffentliche und pluralistische Debatte über die Nachkriegsumsiedlung aus den Ostgebieten der Zweiten Polnischen Republik nach Westen, die sogenannte Repatriierung, wurde in Polen erst nach der Wende möglich [5]. In der Volksrepublik Polen konnten sich die Umsiedler nicht frei organisieren [6]. Jerzy Kochanowski schreibt: „Ein anderes Thema war die Pflege der Erinnerung an die verlorene Heimat durch die Kresovianer [7]. Da das Thema der Kresy während fast der gesamten kommunistischen Ära tabu war, geschah dies inoffiziell oder halboffiziell. Erst mit dem politischen Tauwetter der späten 1980er Jahre wurden Kresovianer-Gesellschaften legalisiert. Die erste von ihnen war die Gesellschaft der Liebhaber von Lwów, die im September 1988 in Breslau registriert wurde“ [8].

In Westdeutschland begannen diese Themen schon bald nach dem Krieg eine öffentliche Form der Erinnerung zu bekommen. Wie Zbigniew Mazur schreibt, „gaben die Besatzungsbehörden der vier Großmächte in den ersten Jahren nach der Niederlage des Dritten Reiches keine Erlaubnis zur Gründung von Organisationen, die aus dem Osten geflüchtete oder vertriebene Deutsche sammelten“[9]. Doch schon 1949 wurde der Zentralverband der vertriebenen Deutschen gegründet, der „Flüchtlinge und Vertriebene auf der Grundlage ihres bisherigen Aufenthaltsortes zusammenführt, vor allem ihre sozialen und materiellen Interessen vertritt und versucht, ihnen die Ansiedlung an ihrem neuen Wohnort und die Eingliederung in die westdeutsche Gesellschaft zu ermöglichen“[10]. 1952 wiederum wurde der Verband der Landsmannschaften gegründet, „ein Zusammenschluss von nach Herkunftsorten gruppierten Organisationen, denen es naturgemäß weniger um Integration, sondern mehr um die Pflege regionaler Besonderheiten und die Aufrechterhaltung der Hoffnung auf Rückkehr in die alte Heimat ging“[11].

In der Deutschen Demokratischen Republik hingegen, die bereits 1950 das Görlitzer Abkommen unterzeichnete, das die neue deutsch-polnische Grenze bestätigte, wurde die Freundschaft zwischen den Ländern des kommunistischen Blocks zur Propagandabotschaft. Die Themen Flucht, Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus den nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen angegliederten Gebieten wurden zensiert.

Die oben genannten Unterschiede werden in den Workshops zur Familiengeschichte deutlich.

Die Teilnehmenden aus Polen und Deutschland erzählen sich in Kleingruppen wichtige Ereignisse aus der Vergangenheit ihrer Familien und präsentieren anschließend einige der Geschichten in einer selbst gewählten Form. Das Motiv des Heimatverlustes, das in ähnlicher Weise erlebt wird, taucht in den Präsentationen auf. Junge Menschen aus Deutschland, besonders aus dem westlichen Teil des Landes, kennen oft die Details der Migration ihrer Vorfahren, die Namen von Orten, manchmal auch Daten. Junge Polen wissen weniger über die Umsiedlung ihrer Verwandten, die Überlieferung zwischen den Generationen scheint gebrochen.

Lokale Geschichte, Perspektiven

Orte wie Kreisau wurden in Polen als „wiedergewonnen“, als „mit dem Mutterland untrennbar verbunden“ bezeichnet.[12] Deutsche Spuren wurden aus dem öffentlichen Raum entfernt. Lech M. Nijakowski schreibt über die Zerstörung „des Erbes einer Gruppe, insbesondere der Zeichen und Symbole ihrer kollektiven Erinnerung und Identität“[13]. Er erklärt: „Infolge der bewussten Politik verschiedener Behörden, aber auch infolge der Aktivitäten der Menschen ‚an der Basis‘ wurde in den Städtebau und Raumordnung, Schloss- und Parkanlagen eingegriffen, Baudenkmäler wurden in einem neuen architektonischen Stil wiederaufgebaut, Gebäude, Denkmäler und Gedenktafeln wurden zerstört. Und sogar Friedhöfe. [...] Insbesondere der allgemeine Hass auf die deutsche Sprache führte dazu, dass deutsche Inschriften, Symbole und Zeichen aus dem öffentlichen Raum entfernt wurden“[14].

Und wie ist es jetzt? Junge Leute machten sich mit Smartphones und Kameras auf die Suche nach materiellen Spuren der Vergangenheit in Kreisau. Sie suchen nach passenden Bildausschnitten nach einem vorgegebenen Schlüssel: polnische und deutsche Perspektive. Wir beziehen andere Gesichtspunkte mit ein und schlagen vor, Kreisau aus einer ökologischen, europäischen und jugendlichen Perspektive zu fotografieren. Dann diskutieren wir, wie die Identität es beeinflusst, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, wie wir über die Vergangenheit sprechen und wie wir sie erleben.

Identität

Eine beliebte Praxis bei internationalen Jugendbegegnungen ist die Organisation eines Länderabends. Die Gruppen stellen ihre Länder, Traditionen und Geschichte vor. In den Projekten, an denen ich beteiligt bin, durchbrechen wir dieses Muster. Wir schlagen einen Abend mit unserer eigenen Geschichte vor – My Story Evening. Jeder kann frei wählen, was und wie er es teilen möchte. Einige Leute präsentieren nationale Tänze (polnische Polonaise, rumänische Tänze im Kreis und paarweise); jemand bringt ein Bausparbuch mit, auf dem die Eltern jahrelang gespart haben und dessen Wert derzeit eine Flasche moldawischen Weines nicht übersteigt. Jemand anderes zeigt Bilder von der Freiwilligenarbeit in Sibirien.

In der Übung Flowers of Identity reflektieren wir über unsere eigene Identität, die Elemente, aus denen sie besteht, und die Bedingungen ihrer Akzeptanz in der Gesellschaft.

Wir fragen uns, wie die Zugehörigkeit zu einer Mehrheits- oder Minderheitengemeinschaft an einem bestimmten Ort die Identität des Einzelnen und die Art und Weise, wie er sich an die Vergangenheit erinnert, beeinflusst. Jede der ankommenden Gruppen bringt die dominante kollektive Erinnerung ihres Landes in den Bildungsprozess ein, ebenso wie Konflikte, auch solche, die die Identität betreffen, denn „die Mitglieder der Gruppe teilen Vorstellungen über die Vergangenheit, die Individuen gehören gleichzeitig verschiedenen sozialen Gruppen an“[15].

Wir wollen die Ereignisse der Vergangenheit aus vielen Perspektiven darstellen und analysieren: Länder, lokale Gemeinschaften, Familien, Individuen – ganz im Sinne des Konzepts der entangled history (Verflechtungsgeschichte) von Michael Werner und Bénédict Zimmermann[i]. Deshalb sind an dem Projekt Once upon Today... in Europe Menschen aus sechs Ländern beteiligt: Polen, Deutschland, Estland, Moldau, Rumänien und der Ukraine. Wir wählen ein Ereignis oder einen Prozess, von dem jeder schon einmal gehört hat: den Beginn des Zweiten Weltkriegs, den Fall des Kommunismus und die politische Wende in Mittel- und Osteuropa. Wir fragen nach der Bandbreite der schulischen Informationen, familiären und persönlichen Erfahrungen, wir machen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufmerksam. Teilnehmende aus Estland erzählen vom gemeinsamen Singen patriotischer Lieder und von der „baltischen Kette“, die Litauer, Letten und Esten – zusammen zwei Millionen Menschen – bildeten und sich an den Händen hielten. Moldawier weisen auf die Ablehnung des kyrillischen Alphabets und die Rückkehr zum lateinischen Alphabet hin, Rumänen erinnern sich an die Gewalt und die Toten auf den Straßen, Ukrainer zeigen Bilder, die Mode darstellen, und sprechen darüber, wie die persönliche Freiheit in der Sowjetunion und heute durch Kleidung ausgedrückt wurde.

Zukunft

Wenn es um den deutsch-polnischen Austausch geht, der in Kreisau die Mehrzahl ausmacht, scheinen einige Gruppen mehr an der Vergangenheit interessiert zu sein, während andere ihre Aufmerksamkeit auf die Gegenwart und die Zukunft richten. Dies wird während der Frage- und Antwortrunde deutlich sichtbar: „Alles, was ihr schon immer über Polen und die Polen (Deutschland und die Deutschen) wissen wolltet, aber noch nicht die Gelegenheit hattet zu fragen“. Es geht um Fragen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, um Schuld und Verantwortung, um gegenseitige Stereotypen. Es gibt auch Fragen, ab welchem Alter man einen Führerschein machen kann, was produziert wird und ob es Aufnahmeprüfungen für die Universität gibt.

Nach sieben Tagen der Teilnahme am Projekt in Kreisau tauschen die Jugendlichen aus Polen und Deutschland Adressen aus, manchmal weinen sie beim Abschied und sagen, dass sie ihre Freunde vermissen werden.

Jolanta Steciuk – Absolventin der juristischen Fakultät der Universität Warschau. Als Stipendiatin der Columbia University in New York nahm sie am Programm Historischer Dialog und Verantwortung teil (2012). Sie ist Trainerin bei internationalen Projekten zu Geschichte, Erinnerung und Versöhnung, die bei der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung durchgeführt werden, u.a. Meine Geschichte – Deine Geschichte, Once Upon ... Today in Europe, Entangled History as a Perspective for Non-Formal Education. Autorin des Interviews mit Halina Bortnowska Wszystko będzie inaczej (Alles wird anders) (2010).

MOCAK FORUM. Krzyżowa. Pojednanie w praktyce - Jolanta Steciuk.pdf

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Das Schloss in Kreisau – Sitz der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, Foto: J. Steciuk

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Ein Stück der Berliner Mauer vor dem Schloss in Kreisau. Fot. Jolanta Steciuk

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ein Kunstwerk, das sich auf ein Wahlplakat bezieht, mit dem für die Kandidaten der Solidarność vor den Parlamentswahlen 1989 in Polen geworben wurde (Freilichtausstellung Mut und Versöhnung in Kreisau, organisiert in Zusammenarbeit mit der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung und dem Museum der Geschichte Polens). Foto: J. Steciuk

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Sportliche Aktivitäten. Foto von J. Steciuk

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– Porträts der Teilnehmenden aus Polen und Deutschland, die während der Integrationsaktivitäten entstanden sind. Foto von J. Steciuk

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Freilichtausstellung Mut und Versöhnung in Kreisau. Foto: J. Steciuk

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Freilichtausstellung Mut und Versöhnung in Kreisau. Foto: J. Steciuk

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Freilichtausstellung Mut und Versöhnung in Kreisau. Foto: J. Steciuk

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Das Berghaus, der Treffpunkt des Kreisauer Kreises. Foto: J. Steciuk

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Porträts von Mitgliedern des Kreisauer Kreises in einem der Räume. Foto: J. Steciuk

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Workshops zum Thema Holocaust, wobei auf den Verlauf der Ereignisse und die kausalen Zusammenhänge geachtet wird. Foto: J. Steciuk

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Eine internationale Gruppe von Pädagogen beim Besuch der Gedenkstätte und des Museums Auschwitz-Birkenau. Foto: J. Steciuk

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Fragment der Freilichtausstellung Mut und Versöhnung

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Arbeiten, die während der Workshops zu Familiengeschichten unter Beteiligung junger Menschen aus Polen und Deutschland entstanden sind. Foto: J. Steciuk 

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Zeichnungen, die Familiengeschichten von Teilnehmenden des deutsch-polnischen Projekts Meine Geschichte – Deine Geschichte darstellen. Foto: J. Steciuk.

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Zeichnungen, die Familiengeschichten von Teilnehmenden des deutsch-polnischen Projekts Meine Geschichte – Deine Geschichte darstellen. Foto: J. Steciuk.

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Deutscher Friedhof in Kreisau. Foto: J. Steciuk.

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eine Präsentation über die Bundeshauptstadt von Schülern einer Schule in Deutschland. Foto: J. Steciuk

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Arbeiten der Teilnehmer des Projekts Once upon Today... in Europe, das sich mit den Entwicklungen im Jahr 1989 beschäftigt. Foto: J. Steciuk

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Arbeiten der Teilnehmer des Projekts Once upon Today... in Europe, das sich mit den Entwicklungen im Jahr 1989 beschäftigt. Foto: J. Steciuk

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Die Ausgabe Nr. 1/2020 von „MOCAK Forum“ ist weiterhin verfügbar und kann auf der folgenden Seite erworben werden:: https://mocak.pl/mocak-forum

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