Das internationale Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ hatte am 26./27. März 2021 wieder einmal den Versuch auf sich genommen, die unterschiedlichen Standpunkte auf gemeinsame Nenner zu bringen. Die traditionelle Konferenz der tschechischen Bernard-Bolzano-Gesellschaft und der deutschen Ackermann-Gemeinde bestätigte auch im Online-Format abermals ihre Rolle als einzigartige Plattform für Meinungsaustausch zwischen Deutschland und den Staaten Ostmitteleuropas.
Nach dem Auftakt der Konferenz, dem auch die Botschafter Deutschlands, Tschechiens, Österreichs sowie die Bürgermeisterin von Brünn und der Regionalhauptmann von Südmähren mit ihren Grußworten beiwohnten, nahm der Hauptredner EU-Kommissar a.D. Ján Figel‘ aus der Slowakei die Herausforderung an, sich mit dem Thema der Konferenz auseinanderzusetzen. In seinem Vortrag mit dem Titel „Was trennt und verbindet Europa? Wie kann man die Einigkeit Europas wiederherstellen?“ plädierte er für die Akzentuierung der demokratischen Grundsätze, der Prinzipien des Rechtsstaates und der Menschenwürde als gemeinsame Basis. Die Ursachen der Krise der liberalen Demokratie sieht er insbesondere im Verlust von Werten, dem nur dadurch entgegentreten werden könne, dass Versprechen eingehalten und dass Worten auch Taten folgen würden. Es sei auch die Rolle Europas, sich für die Werte aktiver einzusetzen, um aus der Krise gestärkt hervorzugehen.
Wenig Verständnis für „den Osten“?
Trotz der Angleichung der sozioökonomischen Unterschiede zwischen Ost und West in den letzten Dekaden wird die Lage heute unterschiedlich als 1989 bewertet. Marek Prawda, Leiter der EU-Kommission in Warschau, erinnerte in seinem Vortrag auf die Einzigartigkeit der Gefühle der Wendezeit von 1989, als alle an einem Strang zogen. Man solle die Traditionen der EU in ihrer Ganzheit kennenlernen, denn um das Gemeinschaftsgefühl zu fördern, sei es wichtig, dass die mittelosteuropäische Erfahrung auch Bestandteil des europäischen Gedächtnisses werden würde. Damit das fehlende Gespür westlicher Staaten für ostmitteleuropäische Spezifika nicht die bestehende Polarisierung weiter verschärft, solle man sich die Brille des Anderen aufsetzen können. Darauf, dass die Enttäuschung von der Transformationszeit nicht unbedingt auf Verständnis „im Westen“ stießt, ging auch der Vortrag von Martin Patzelt ein, der CDU-Bundestagsabgeordnete und ehemaliger Oberbürgermeister der brandenburgischen Stadt Frankfurt/Oder ist. Er versuchte auch, die Momente der „Ostalgie“ in der ehemaligen DDR näher zu erläutern, die sich aus dem fehlenden Zusammenhalt, der Unsicherheit und der Minderwertigkeitsgefühle gegenüber der globalisierten Welt speisen.
Liberale Demokratien auf dem Prüfstand
Die Stimmungslagen in den ehemaligen Ostblock-Ländern waren im Hinblick auf antiliberale Tendenzen ebenso Thema der ersten Podiumsdiskussion, an der neben Marek Prawda und Martin Patzelt auch die Prager Historikerin Veronika Pehe und der Direktor der Katholischen Akademie in Dresden Thomas Arnold teilnahmen. Die sich verschärfende Kluft zwischen dem Staat und dessen Bürgern mag wiederum in Polen und Tschechien viel tiefer gehen als in Deutschland. Das Misstrauen in den Staat sei in Polen, laut Marek Prawda, wesentlich auf die Frontenstellung im Land zurückzuführen. Auf ähnlichen Trend in Tschechien wies auch Veronika Pehe hin, der sich sogar auf die allgemeine Vernachlässigung der pandemischen Maßnahmen auswirkte und sonst traditionell auch mit sozialen Fragen geladen ist. Thomas Arnold sprach hingegen von einem stabilen System in Deutschland, wo man, nichtsdestotrotz, auch immer mehr mit gegensätzlichen Monologen zu tun hat. Deswegen sei es auch wichtig, ein drittes Narrativ zur Verständigung zu fördern. Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion waren sich darin einig, dass trotz weitgehender politischer Instrumentalisierung der Ängste und Spaltungsprozesse die Corona-Krise dem Rechtspopulismus erhebliche Verluste zugefügt hat. Wie sich in der Diskussion mit dem Publikum ergeben hat, scheint Antiliberalismus heute etwas über dem Zenit zu sein.
Nationen gegen die Gemeinschaft
Spannende, wenn auch zum Teil gegensätzliche Ausführungen brachte das Thema der zweiten Paneldiskussion „Nationalstaaten und die EU in der gegenwärtigen Krise“ mit sich. Auf dem digitalen Podium trafen sich der CSU-Bundestagsabgeordnete Thomas Erndl, die Europaparlamentarierin der tschechischen Piratenpartei Markéta Gregorová, der ehemalige ungarischer Botschafter Gergely Pröhle und Robert Zurek, Leiter der deutsch-polnischen Stiftung in Kreisau/Krzyzowa. Markéta Gregorová gab mutige Anstöße zur spannenden Diskussion, indem sie für eine Stärkung der europäischen Ebene, sei es durch die Demokratisierung der europäischen Institutionen oder durch die Stärkung des regionalen Subsidiaritätsprinzips, plädierte. Die Einführung des Rechtes zur Gesetzesinitiative im Europaparlament könne überdies die EU näher an die Bevölkerung bringen. Gregorová setzte ihre Ausführungen in den Kontext der aktuell verlaufenden Konferenz über die Zukunft Europas, die von der Europäischen Kommission angeregt wurde. Die weiteren Diskussionsteilnehmer wiesen allerdings diese Reformvisionen mehr oder weniger zurück und betonten die Wichtigkeit des Nationalen als organisatorische Grundeinheit. Gergely Pröhle erwiderte mit dem Appell auf das Gleichgewicht zwischen EU und Nationalstaaten und lehnte eine etwaige Umgehung der Nationalstaaten strikt ab. Die EU-Kommission soll nach Pröhle vor allem als „Hüterin der Verträge“ da sein und nicht eigenständig politisch agieren. Den mentalen Bedarf an Nationalstaaten haben auch Thomas Erndl und Robert Zurek bekräftigt, denn die Menschen denken nach wie vor in nationalen Kategorien, die auch ihre Rolle in Zeiten der Unsicherheit erfüllen. Sowohl die EU wie auch Nationalstaaten müssen jetzt handlungsfähig sein, so Erndl.
Stark durch die Krise?
Obwohl die Corona-Krise abermals in den Nationalstaaten als machtpolitisches Werkzeug ausgenutzt wird, wie es Robert Zurek für Polen, Markéta Gregorová für Tschechien und Gergely Pröhle für Ungarn feststellten, bringt die Pandemie mit ihren zahlreichen Rückschlägen einige Gründe zum Umdenken und zum aktiveren Einsatz für die Grundwerte, der Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit, wie sie eingangs Ján Figel’ formulierte. Im Hinblick auf die Geschichte der EU sind die Spaltungen zwischen Ost und West, Stadt und Land, Jung und Alt, usw. nicht wirklich neu und man siehe, was in diesem Sinne früher schon erreicht wurde, bemerkte Robert Zurek. Er wie auch Veronika Pehe beobachten auch mit etwas Optimismus den Anstieg der jungen Generation, für die die Spannungen und Spaltungen von heute oft keine wesentliche Rolle mehr spielen würden. Die Überwindung der Gräben sei laut Martin Patzelt auch durch die Medien und Chaträume, wo sich Meinungen radikalisieren, wesentlich erschwert. Die liberale Demokratie sei, mit den Worten von Thomas Erndl, zwar das beste bisher bestehende System, doch wird von ihm dementsprechend erwartet, dass es sich in der Krise bewährt.
Die Konferenz wurde vom Vorsitzenden der Bernard-Bolzano-Gesellschaft Matěj Spurný und dem Bundesvorsitzendem der Ackermann-Gemeinde Martin Kastler moderiert. Die Organisatoren ließen es sich nicht nehmen, für ein Kulturerlebnis der Teilnehmer der Online-Konferenz zu sorgen, nämlich in der Form eines Konzerts der Brünner Philharmonie, die live aus Brünn übertragen wurde. Dadurch konnte die großartige Stimmung aus der Vor-Corona-Zeit virtuell wiederbelebt werden.
Der XXX. Jahrgang des Brünner Symposiums wird nächstes Jahr vom 8. bis 10. April 2022 stattfinden!
Autor: Mikuláš Zvánovec
Videoaufzeichnung der Konferenz: