An einem Wochenende im Januar 2020 feierten rund 70 Mitarbeiter*innen und Freiwillige der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung aus drei Jahrzehnten das 30-jährige Jubiläum der Stiftung in Krzyżowa. Jede und jeder war eingeladen, Erinnerungsbilder an seine Zeit in Kreisau zu schicken, um daraus für den Festabend eine Fotoschleife zu erstellen. Auf den Bildern der Mitarbeiter*innen aus den 1990er Jahren war selbstverständlich häufig Ewa Unger im Kreis der Kolleg*innen zu sehen.  Sie war die Vorsitzende des ehrenamtlichen Vorstands der Stiftung und zugleich jeden Tag im Breslauer Büro der Stiftung tätig sowie regelmäßig zu Sitzungen, öffentlichen Auftritten und Begegnungen vor Ort in Kreisau anwesend. Während der Jubiläumsfeier der Mitarbeiter*innen konnte jede(r) einen Gruß an Ewa Unger schreiben und die gesammelten Beiträge haben wir ihr als mehrseitigen Brief per Post geschickt. Sie hat diese Botschaften aus Kreisau in vollem Bewußtsein gelesen, mehrmals gelesen und sich jedes Mal gefreut. Sie kannte längst nicht alle Autor*innen. Heute weiß ich, dass dieser Brief ein Gruß des Abschieds und des Dankes aus Kreisau war zum 30. Geburtstag einer Institution, die ohne Ewa Unger nicht zu denken wäre. Sie ist unumstritten eine der großen, wichtigen und bedeutenden Frauen in der Geschichte Kreisaus.

[FOTO: Marek Aureliusz Pędziwol]

Ewa Elżbieta Unger erblickte am 20. Oktober 1926 in Królewska Huta (ab 1934 Chorzów) das Licht der Welt.  Sie wuchs in einer polnischen, jüdisch säkularisierten Familie auf. Ihre Mutter stammte aus Wien, so dass Ewa und ihr älterer Bruder Stefan mit der deutschen Sprache groß wurden. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs flüchtete die Familie nach Lemberg, von wo aus sie im Sommer 1940 nach Sibirien in ein Arbeitslager deportiert wurde. Nach der Befreiung aus dem Lager übersiedelte die Familie in eine Kolchose in Kasachstan, wo Ewa mit Feldarbeit den Lebensunterhalt verdiente. Sie verlor Vater und Bruder in Folge von Deportation und Krieg.

Mutter und Tochter konnten im Frühjahr 1946 zurück nach Polen kommen und fanden in Breslau ein neues zu Hause. Beide Frauen ließen sich taufen und wurden praktizierende Katholikinnen. Ewa Unger holte in der Abendschule ihr Abitur nach, studierte an der Naturkundlichen Fakultät der Universität, promovierte in Chemie und übernahm schnell Positionen als Wissenschaftlerin und Dozentin.

1974 entschied sie sich gegen weitere Aufgaben an der Hochschule und für ein hauptberufliches Engagement im Klub der Katholischen Intelligenz (KIK) in Breslau. Dieser Vereinigung katholischer Laien gehörte sie seit seiner Gründung im Jahr 1958 an und wurde schnell zum aktiven Mitglied mit verschiedenen Funktionen im Vorstand. Dank ihrer Offenheit und ihrer Deutschkenntnisse wurde sie zur Ansprechpartnerin für Besucher aus beiden Teilen Deutschlands, die in Breslau seit den 1960er Jahren Kontakte suchten, um unter Polen und Deutschen eine neue Sprache und Verständigung zu finden. Daraus ergab sich eine Vielzahl von Begegnungen, vor allem die tragfähige Partnerschaft zur Dortmunder Gruppe des Bensberger Kreises. In der Zeit des Kriegsrechts und der Lebensmittel- und Medikamentennot in Polen Anfang der 1980er Jahre unterstützten Kirchengemeinden aus Dortmund die Stadt Breslau mit Hilfsleistungen überwältigenden Ausmaßes. Ewa Unger war immer dabei, wenn es etwas zu vermitteln, zu organisieren und zu übersetzen gab.

Viele Jahre war sie stellvertretende Vorsitzende und Sekretär des Vorstands des KIK, in den Jahren 1988-1990 Vorsitzende des Klubs. In dieser Funktion wurde sie zu einer der Schlüsselfiguren bei der Gründung der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung.  

Im September 1990 wählte der erste Rat der neu gegründeten Stiftung sie zur Vorsitzenden des Präsidiums und damit zur Präsidentin der Stiftung. Sie hat das folgende erste Jahrzehnt der Stiftung Kreisau geprägt und gestaltet und dabei viele Konflikte miterlebt und durchstanden. In ihrer Ansprache zur feierlichen Eröffnung der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Kreisau im Juni 1998 sagte sie: 

„Das Erstellen eines Bauplanes und sein Umsetzen in die Tat, ohne dabei die vorgegebene Zeit und die vorgegebenen Kosten zu überschreiten, war trotz aller damit verbundenen noch so großen Probleme, der einfachere Teil des Aufbaus der IJBS. Die schwierigere und in gewissem Sinne wesentlich halsbrecherische Aufgabe war es, die Vorstellungen und Erwartungen von Menschen aus so verschiedenen Milieus mit unterschiedlichen Erfahrungen und Gewohnheiten auf einen Nenner zu bringen.“  

Der hohe Kommunikationsaufwand in dieser Phase des Aufbaus konnte zu großen Teilen dank ihrer enormen Übersetzungsleistungen, sprachlich und kulturell, gestaltet werden. Leider kam es 2003 zu einer Krise innerhalb der Stiftung, der nicht mehr durch Dialog und Gespräch überwunden werden konnte. Die Wege der Stiftung Kreisau und ihrer langjährigen Vorsitzenden trennten sich.

An den Gedenkmessen in Kreisau zu Jahrestagen der Versöhnungsmesse 2004, 2009 und 2014 nahm Ewa Unger in treuer Verbundenheit teil und freute sich zuletzt über ihren Ehrenplatz zur Eröffnung der neuen ständigen Ausstellung „Mut und Versöhnung“ unter Teilnahme von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Premierministerin Ewa Kopacz im November 2014. Die Ausstellung widmet Ewa Unger eine Tafel als Botschafterin der deutsch-polnischen Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie wird zitiert mit dem Satz: „Ich verstehe die Ursache für Hass, aber das bedeutet nicht, dass er angestachelt werden soll.“ 

Sie ist Trägerin hoher staatlicher Orden Polens und Deutschlands, sowie der Gemeinde Schweidnitz, der Stadt Breslau und der Wojewodschaft Niederschlesien.

Ewa Unger verstarb am 15. März 2020 in Thorn im Kreis ihrer Lieben. Sie wurde am 21. März im Familiengrab (Feld 7, Reihe 8) auf dem Friedhof an der ul. Bujwida in Breslau beigesetzt. Aufgrund der Corona-Pandemie konnte die Beerdigung nur im kleinsten Kreis stattfinden. Zu einem späteren Zeitpunkt sind Trauer- und Gedenkfeierlichkeiten geplant.

In Vorbereitung ist eine Publikation über Leben und Werk Ewa Ungers. Sollte jemand persönliche Erinnerungen, Briefe, Texte oder Fotos teilen wollen, bitten wir um Zusendung oder Kontaktaufnahme mit Annemarie Franke unter der Adresse Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.

Wir verbinden uns mit allen Angehörigen und Freunden in tiefer Dankbarkeit und Trauer.

Dr. Annemarie Franke - Aufsichtsrat der Stiftung Kreisau

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