Hätte ich es geglaubt, wenn mir vor einem halben Jahr jemand gesagt hätte, dass Kreisau bald ein Zufluchtsort für Kriegsgeflüchtete werden würde? Vor einem Krieg, der in einem Nachbarland stattfindet? Vermutlich nicht. Wir haben uns in Europa sicher gefühlt, in dem über 70 Jahre lang ein friedliches Zusammenleben herrschte. Wir haben geglaubt, dass die blutigen Konflikte auf dem Balkan in den 90er Jahren eine Ausnahme waren. Und plötzlich, am 24. Februar 2022, sind wir in einer anderen Wirklichkeit aufgewacht. Und wir haben uns sehr schnell in ihr zurechtfinden müssen.

Als der Ukrainekrieg begann, habe ich, ähnlich wie die meisten von uns, mit Sorge und Fassungslosigkeit die Nachrichten über die Kriegsgeschehnisse hinter der Ostgrenze Polens verfolgt. Wir alle konnten lange nicht glauben, dass der Krieg wirklich ist und dass er auf eine so brutale, unmenschliche Weise Bürger*innen eines unabhängigen, souveränen Landes trifft. Wir waren erschüttert, denn er bedrohte unmittelbar Menschen, mit welchen wir uns erst vor Kurzem in Kreisau getroffen hatten. Das letzte deutsch-polnisch-ukrainische Projekt in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte fand Ende Januar dieses Jahres statt. Teilnehmende waren Jugendliche aus Krzepice, Marl und Dnipro. Wir dachten an all die Personen, mit welchen wir in den letzten Monaten und Jahren zusammengearbeitet haben: Kinder, Jugendliche, Lehrer*innen, Aktivist*innen. Uns trieb die Frage um, ob sie in Sicherheit sind. Wir haben versucht, uns mit ihnen in Verbindung zu setzten und zu fragen, welche Hilfe sie benötigen.

All das Fragenstellen verwandelte sich sehr schnell in ein Handeln. Kreisau öffnete sich für Menschen aus der Ukraine. Knapp 100 Personen haben bei uns Zuflucht gefunden. Darunter kaum Männer – es sind vorwiegend Mütter und Kinder, die alles zurückgelassen haben, um ihr Leben zu retten. Alles, was sie mitnehmen konnten, passte oft in eine Tasche rein. Als sie ankamen, waren sie erschöpft, oft verzweifelt und sorgten sich um die zurückgebliebenen Ehemänner, Brüder, Eltern. Sie waren völlig auf unsere Hilfe angewiesen. Als ich sie sah, erinnerte mich das an Freya von Moltke, die vor 77 Jahren, noch in Trauer um ihren ermordeten Mann, diesen Ort mit zwei kleinen Kindern verließ. Es hat sie nicht gebrochen. Später tat sie viel Gutes, wurde zum Symbol und Inspiration. Würde diese Geschichte den in Kreisau untergebrachten Frauen Mut machen? Sollen wir sie ihnen erzählen?

Das Wichtigste ist es jetzt zu helfen. Wir versorgen unserer Gäste so weit, wie wir es können. Wir planen weitere Maßnahmen, denn man muss damit rechnen, dass viele von ihnen länger in Polen bleiben werden. Sie müssen die Möglichkeit haben, die Sprache zu lernen, eine Arbeit zu finden, ihre Kinder in Kitas und Schulen zu schicken.

Gleichzeitig denken wir darüber nach, wie der Krieg unsere Stiftung verändern wird. Werden wir den Aufruf zu „europäischer Verständigung“ neu lesen? Wird das immer weniger verstandene Wort „Versöhnung“ eine neue Bedeutung erlangen? Wie können wir neue Brücken zwischen Ost und West in Europa schlagen? Schon jetzt müssen wir darüber nachdenken, wie die neue Wirklichkeit nach dem Krieg gebaut werden kann. Vor allem sollten wir keine Furcht vor großen, mutigen Visionen haben. Dazu werden wir von dem Erbe des Kreisauer Kreises, der deutsch-polnischen Versöhnung und der Geschichte des Neuen Kreisaus aufgefordert.

Zuerst aber muss man aber helfen. Das ist unsere Pflicht, aber auch unser Privileg, weil wir in der Situation der Not Hilfe leisten und Gutes tun können. Seit 30 Jahren setzen wir uns in Kreisau für internationale Verständigung ein, fördern humanistische und christliche Werte. Wie noch nie davor haben wir nun eine Chance zu beweisen, wie erst wir es damit meinen.

Wenn ich mir unser Team ansehe, dann weiß ich, dass wir den Test bestehen werden. In kurzer Zeit haben wir es geschafft, die Räumlichkeiten so zu gestalten, dass dort Familien untergebracht werden können. Wir konzentrieren uns nicht nur auf die materiellen Bedürfnisse, sondern bieten wir auch eine psychologische Betreuung und Unterstützung an. Unser Ziel ist es, finanzielle Mittel zu finden, mit welchen wir den Menschen so lange eine Zuflucht bieten können, wie sie es brauchen. Die Empathie und das Engagement von unseren Mitarbeiter*innen sowie die Unterstützung von Freunden und Partnern, darunter unserer Schwesterorganisationen: der Freya von Moltke Stiftung und der Kreisau-Initiative e. V. sowie des Festivals Krzyżowa-Music, sind enorm. Es ist aber erst der Anfang eines langen, schwierigen Weges. Machen wir uns hier nichts vor. Wehren wir uns aber auch gleichzeitig gegen Furcht und Entmutigung. Gemeinsam sind wir stark!

Dr. habil. Robert Żurek
Geschäftsführender Vorstand
der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung

Kreisau für die Ukraine

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