Das diesjährige Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ vom 31. März bis 2. April 2023 beschäftigte sich mit dem Thema „Vor dem Krieg – nach dem Krieg. Mittelosteuropäische Erfahrungen und Perspektiven“. Die Stiftung Kreisau war eine Partnerin des Symposiums und wurde von Dr. habil. Robert Żurek, dem geschäftsführenden Vorstand, vertreten.
Lesen Sie den von Steffen Neumann verfassten Bericht von dem 31. Brünner Symposium. Wir empfehlen auch drei Essays, die beim Symposium vorgetragen wurden. Eins wurde von der Schwester einer unseren Freiwilligen geschrieben, die erzählt, wie der Krieg in der Ukraine ihr Leben verändert hat.
Grundkonsens und Erinnerungskultur - Steffen Neumann
Wie die mitteleuropäischen Erfahrungen den Umgang mit dem Krieg in der Ukraine beeinflussen.
Das Brünner Symposium „In der Mitte Europas“ ist für seine Streitkultur bekannt. Doch jede Debatte braucht einen Grundkonsens. Das Thema der 31. Auflage: „Vor dem Krieg – nach dem Krieg. Mitteleuropäische Erfahrungen und Perspektiven“. An den Grundkonsens erinnerte zum Auftakt im Rathaussaal der Stadt Brünn (Brno) die SPD-Politikerin Gesine Schwan in einer Debatte mit dem Historiker Jan Šícha und Mitveranstalter Matěj Spurný: „Der Grundkonsens kam aus der Notwendigkeit, nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland eine pluralistische Demokratie westlichen Musters einzuführen, in der unterschiedliche Gruppen über den Streit in der Politik zu den Grundwerten der Demokratie – Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität zusammenfinden mussten.“
Dass in Brünn an den Grundkonsens erinnert wurde, lag am Thema: Gleich mehrmals wurde auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als mögliche Vision für die Zeit nach dem Krieg in der Ukraine Bezug genommen. Die Erinnerung an den Grundkonsens hatte auch mit der Suche nach einer Erklärung zu tun, wie Deutschland zu der Fehleinschätzung der russischen Politik gelangen konnte. Unverdächtig, Fehler der SPD verteidigen zu wollen, rückte Schwan einiges gerade. Nein, der Slogan „Wandel durch Handel“ stamme nicht von der SPD, sondern von der Industrie. Die SPD ließ sich von „Wandel durch Annäherung“ leiten. Auch liege die Ursache der Russland-Freundlichkeit nicht in der Entspannungspolitik Willy Brandts. Diese bezog sich ja gerade nicht nur auf Russland, sondern auf Mittel- und Osteuropa allgemein. Nichts belege das nachdrücklicher als der Kniefall von Warschau.
Im ersten von drei Panels wurden am Samstagmorgen zunächst die historischen Anker gesetzt, welche in jedem mitteleuropäischen Land im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine die Debatte bestimmen und die zu kennen für das gegenseitige Verständnis von Bedeutung sind. Wie in Tschechien sollten es auch in der Slowakei die Jahre 1938 und 1968 sein. Doch 1938 war das Vorspiel für die Entstehung der ersten selbständigen Slowakei. Die Erfahrung von 1968 ist aber auch für die Slowakei prägend. Der Historiker Juraj Marušiak verwies darauf, dass in der Slowakei die Leistung der Sowjetunion bei der Befreiung vom Faschismus nie in Zweifel gezogen wurde. Vor allem aber erklärt sich die Ablehnung einer weiteren Unterstützung der Ukraine durch die massive Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierung.
Auch in Ungarn ist die Unterstützung für die Ukraine trotz der durchlebten Geschichte niedrig. Der Historiker Gergely Romsics erklärte, dass „Erinnerungskulturen keine gesellschaftliche Gegebenheit sind, sondern gerade in den vergangenen 20-30 Jahren viel mehr durch politische Akteure moduliert, wenn nicht manipuliert werden können.“ Mit Blick auf Ungarn bedeute das eine „ziemlich effiziente“ Unterdrückung dieser Erinnerungskultur durch die von der Regierung präsentierte Erzählung, dass der Krieg in der Ukraine nur Teil eines viel größeren Konflikts sei.
Laut der Politologin Gerlinde Groitl diene der Rückgriff auf die Geschichte in der deutschen Debatte beiden Seiten. Während die eine die historische Verantwortung Deutschlands betont und daraus die Hilfe für die Ukraine ableitet, bezieht sich die andere auf das „Nie wieder Krieg“, wenn sie Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnt. Dass Deutschland lange die Signale überhört hat, die gerade auch aus Mitteleuropa kamen, begründet Politologin Groitl mit der vorherrschenden „selbstreferenziellen Betrachtung, in der Frieden nie ein Thema war, weil das Bedrohungsgefühl fehlte“, und schließt daraus: „Nur wenn man die Bedrohungslagen anderer erkennt, kann europäische Integration gelingen.“
Einzig in Polen gab es vom ersten Tag des Krieges an einen gesellschaftlichen Konsens in der Unterstützung der Ukraine, wobei dieser Krieg, wie die Kulturwissenschaftlerin und Soziologin Magdalena Saryusz-Wolska betonte, bereits fast zehn Jahre dauert. Allerdings gibt es eine Gefahr, die auch die polnische Unterstützung der Ukraine schwächen könnte. Das ist die extrem rechte Partei Konfederacja, die in Bezug auf die Ukraine bisher von Konservativen betonte Erinnerungsmuster pflegt, wie die Wolhynien-Massaker, die Kollaboration ukrainischer Offiziere mit den Nationalsozialisten oder die Person des ukrainischen Nationalisten Stepan Banderas. Laut Umfragen kommt Konfederacja auf 11 Prozent und hat reale Chancen, Teil der nächsten Regierung zu sein.
Dieses erste Panel wurde durch ein zweites am Nachmittag flankiert, in dem die Rolle der Menschenrechte in der Gedankenwelt und Politik Václav Havels und ihr Vermächtnis thematisiert wurden. Das prominent besetzte Podium (unter ihnen mit Alena Wagnerová und Milan Uhde auch zwei Altersgenossen des früheren Präsidenten) berichtete mit einer Ausnahme aus erster Hand, wie sich die Vorstellung Havels von den Menschenrechten von den frühen 1950er Jahren bis in die Zeit seiner Präsidentschaft und darüber hinaus entwickelte. Letztendlich gipfelte das Podium in der Beschreibung von Havels Antipolitik bzw. der auf Menschenrechten basierten Außenpolitik.
Eindrucksvoll wirkten die authentischen Essays zum Thema „Wie veränderte der russische Krieg gegen die Ukraine meine Welt?“, deren drei junge Preisträger während des Symposiums in Brünn ausgezeichnet wurden. Erstmals gehörte eine Studentin aus der Ukraine zu den Preisträgern.
Im Rahmen des Symposiums wurden zudem Führungen durch zwei Ausstellungen angeboten, die die deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989 reflektierten sowie an Jaroslav Šabata erinnerten.
Nicht einfach hatte es das letzte Podium am Sonntagvormittag, das getreu dem Symposium-Thema einen Blick auf die Zeit nach dem Krieg werfen sollte. Der Wunsch nach Optimismus war groß, auch wenn es dazu wenig Anlass gab. Vor allem, so einigten sich alle Sprecher, ist die Entwicklung in Russland völlig unvorhersehbar. Ziel sei ein kompletter Sieg der Ukraine, das heißt in den Grenzen von 1991, waren sich alle einig. „Sieg heißt aber auch eine Bestrafung der Verantwortlichen“, sagte Iryna Zabiiaka, „der Sieg muss in den Köpfen ankommen.“ Echte Versöhnung sei nur möglich, so Mesežnikov, „wenn die russische Gesellschaft sich befreit.“ Ob sich Russland ändert oder nicht, für den ukrainischen Priester Sergiy Matskula bleibt eine Herausforderung: „Wir dürfen uns zu den Russen nicht so verhalten, wie sie zu uns. Wir müssen uns immer ins Gedächtnis rufen, dass die Russen auch Menschen sind“, sagt der Priester.
STEFFEN NEUMANN