Das Erbe

Die in Kreisau zu besichtigende Ausstellung „Mut und Versöhnung”, die von den deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert erzählt, hinterlässt bei vielen Besuchern einen tiefen Eindruck. Sie führt durch ein Labyrinth, dessen Wände aus riesigen rostfarbenen Stahlplatten bestehen. Gezeigt werden an diesen einzelne, meist dramatische Ereignisse der deutsch-polnischen Geschichte. Das Labyrinth steht dabei für die Mäander einer Feindschaft, aus denen der Besucher einen Ausweg finden muss – ähnlich wie die Polen und die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Am meisten beeindruckt uns an diesem Ort immer wieder die Stelle, an der das Labyrinth endet und in eine Verständigungs- und Versöhnungszone übergeht. Aus der Beklemmung der durch die Stahlwände eng gewundenen Pfade geht es hinaus – hin in einen weiten, offenen Bereich. Dieser Kontrast führt den fundamentalen Wert des Dialogs sehr anschaulich vor Augen. Es ist gerade der Dialog, das Gespräch miteinander, das uns in die Lage versetzt, Konflikte, Feindschaften und Spaltungen zu überwinden und aus der Beengtheit der eigenen Vorurteile und Beschränkungen auszubrechen. Erst dadurch sind wir in die Lage versetzt, uns daranmachen zu können, gemeinsam eine gute, vielversprechende Zukunft zu gestalten.

Die Geschichte der deutsch-polnischen Verständigung gibt Hoffnung und ermutigt zum Dialog, ist doch eine größere Feindschaft als die, die Polen und Deutsche nach dem Alptraum des Zweiten Weltkriegs voneinander trennte, kaum vorstellbar. Deutsche brachten Polen an den Rand der biologischen und kulturellen Vernichtung. Aber noch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren sie nicht bereit, ihre Schuld anzuerkennen; vielmehr glaubten sie geradezu, sie seien Opfer des polnischen Chauvinismus, der sie eines erheblichen Teils ihres Landes beraubt habe. Die Leiden, die sie durch Polen erfahren hatten, verstellten ihnen die Sicht auf die eigene Schuld und Verantwortung, obwohl sich das Ausmaß beider Phänomene nicht einmal vergleichen lässt.

Wie lässt sich da der Gegensatz überwinden, wenn das Unrechtsgefühl und der Schmerz über den eignen Verlust ein Ausmaß erreichen, das wir uns heute überhaupt nur schwer vorstellen können? Wenn sich beide Seiten gleichzeitig als Opfer begreifen? Wenn die gegenseitige Feindschaft über viele Jahrzehnte hinweg über ganze Generationen gewachsen und zu einem wesentlichen Teil der polnischen und deutschen Identität geworden ist? Wenn es an elementarem Vertrauen und an Kompromissbereitschaft fehlt? Und wenn – auch dies dürfen wir nicht außer Acht lassen – die Voraussetzungen für die Suche nach Verständigung extrem ungünstig waren, weil Europa durch den Eisernen Vorhang getrennt war, in Polen und in der DDR die Kommunisten an der Macht waren und dabei von unten unternommene Versuche, Kontakte zu knüpfen, unterbunden wurden und die politische Klasse in Westdeutschland antipolnische Einstellungen ihrer Wähler begrüßte?

Die Lage schien hoffnungslos zu sein. Und dennoch gelang es Polen und Deutschen, einen Ausweg zu finden, aus dem Teufelskreis der Feindschaft auszubrechen, freundschaftliche Beziehungen aufzunehmen und eine strategische Partnerschaft aufzubauen. Den Schlüssel zu dieser geradezu kopernikanischen Wende in den gegenseitigen Beziehungen bildeten dabei Begegnung und Dialog. Ein – und dies sei hier ausdrücklich erwähnt – ungemein mühsamer Dialog, der beiden Seiten enorm viel Geduld abverlangte und sich über Jahrzehnte hinzog. Doch schließlich aber wurde er von einem historischen Erfolg gekrönt, um den uns viele andere Völker beneiden, die selbst mit einer konfliktbelasteten Vergangenheit ringen.

Hinzuweisen lohnt es sich in diesem Kontext darauf, dass die letzte Szene in der Kreisauer Ausstellung nicht vom Geist des Triumphalismus durchtränkt ist. Anstelle von Fanfaren und Selbstzufriedenheit findet sich hier stattdessen ein Aufruf zum Dialog. Denn gute Beziehungen bedürfen der kontinuierlichen Pflege. Darüber hinaus – oder vielmehr vor allen Dingen – braucht es eine Verantwortungsgemeinschaft, um den Herausforderungen der Zukunft gerecht werden zu können. Und eine solche Verantwortungsgemeinschaft, in deren Kreis im Geiste der Solidarität möglichst günstige Lösungen für uns alle ausgearbeitet werden, wird gerade geschmiedet im geduldigen Dialog.

Für diesen – auf die Gestaltung einer guten Zukunft hin ausgerichteten – Dialog steht symbolisch im letzten Teil der Ausstellung der runde Tisch. Und gewiss weist er ein charakteristisches, ungewöhnliches Detail auf. Denn das Rund der Tischplatte ist durchgeschnitten – und so ergeben sich vier Lücken, als ob jemand darauf ein unsichtbares Kreuz gelegt hätte. Angespielt wird damit auf einen anderen Aspekt des dialogischen Erbes:  das Wirken des Kreisauer Kreises.

Diese überaus originäre deutsche Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs, die vom damaligen Besitzer des hiesigen Guts, Helmut James von Moltke, mitbegründet wurde, konzentrierte sich in ihrer Tätigkeit darauf, eine neue Ordnung für das künftige, von der nationalsozialistischen Herrschaft befreite Nachkriegsdeutschland zu entwerfen. Die Früchte dieses Prozesses bestanden in umfangreichen Dokumenten, in denen die Ursachen für das Scheitern der deutschen Demokratie diagnostiziert und ein Programm der in Zukunft durchzuführenden Reformen des politischen und wirtschaftlichen Systems sowie des Bildungswesens dargelegt sind. Zugleich formulierten die Mitglieder des Kreisauer Kreises darin auch die Vision eines demokratischen Deutschlands in einem geeinten Europa aus.

Die Begründer des Kreises kamen zu dem Schluss, dass es angesichts einer solch starken Emanation des Bösen – des Nationalsozialismus – unabdingbar ist, die Kräfte zu bündeln und eine Art Koalition der Menschen guten Willens zu schmieden. Sie waren davon überzeugt, dass sich eine bessere Zukunft nur gemeinsam aufbauen lässt, indem man alte Ressentiments und Konflikte überwindet. Zur Zusammenarbeit luden sie deshalb Vertreter verschiedener, miteinander verfeindeter Gruppen ein – Konservative, Arbeiteraktivisten, Christdemokraten, Sozialisten, Protestanten und Katholiken. In Zeiten, in denen all diese Milieus zueinander in Konflikt standen, stellte der Versuch, ein solches Dialogforum zu schaffen, einen bemerkenswerten Schritt dar. Und zu einem informellen Erkennungszeichen der Gruppe wurde das Kreuz (das Zeichen des Christentums), das in einen Kreis (das Symbol der Sozialdemokratie) eingefügt war. Die Zeichen dieser – damals sich feindlich gegenüber-stehenden – weltanschaulichen Milieus miteinander zu verschmelzen, glich dem Versuch, Feuer und Wasser miteinander zu verbinden. Aber gerade dies brachte zum Ausdruck, worauf der Kreis ausgerichtet war: den Dialog und die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg.

Der Kreis wurde aufgedeckt, ein Teil seiner Mitglieder, darunter Helmut James von Moltke, wurde hingerichtet. Als Gruppe erreichten sie – scheinbar – nichts. Sie hinterließen uns freilich eine wertvolle Inspiration – zu Umsicht und Mut, zur zivilgesellschaftlichen Verantwortung und zum Zusammenwirken für eine gemeinsame Sache, allen Unterschieden zum Trotz.

Den Weg des Dialogs und der Zusammenarbeit ungeachtet aller Spaltungen – ähnlich dem, den die Kreisauer gewählt hatten – beschritten später diejenigen Gruppen antikommunistischer Opposition in den Ostblockländern, die wesentlich zur friedlichen Transformation Ende der 1980er Jahre, Anfang der 1990er Jahre beitrugen. Die Offenheit gegenüber sehr unterschiedlichen Milieus und der Geist der Zusammenarbeit über Grenzen hinweg zeichnete u. a. die tschechoslowakische Charta 77 oder die Initiative für Frieden und Menschenrechte in der DDR sowie in Polen das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) oder die Polnische Unabhängigkeitsallianz (PPN), insbesondere die „Solidarność“, aus.

Heute denkt man selten daran, welch wichtige Rolle für die Entwicklung der antikommunistischen Opposition in Ostmitteleuropa Begegnung und grenzüberschreitender Dialog spielten. Kaum jemand weiß, dass der berühmte Essay von Václav Havel, „Die Macht der Machtlosen”, für einen polnischen Untergrundverlag entstand, oder dass die „Gedanken zum Handlungsprogramm” von Jacek Kuroń seinerzeit eine Art Pflichtlektüre in den Reihen der DDR-Opposition war. Wir erinnern uns nicht an die Begegnungen und Gespräche polnischer und tschechoslowakischer Oppositioneller auf Berggrenzpfaden oder an die häufigen Besuche ungarischer Dissidenten in Polen. Wir denken nicht daran. Und daher wissen wir deren Einfluss auf die Formierung der Opposition und die Überwindung des Systems nicht zu schätzen.

Und hier kommen wir zu einem dritten Aspekt des dialogischen Erbes von Kreisau: den grenzüberschreitenden Kontakten von Oppositionellen aus Polen und der DDR, die von Deutschen aus der Bundesrepublik unterstützt wurden. Ihr gemeinsamer Widerstand gegen die kommunistische Diktatur fand, wie es im Leitbild unserer Stiftung heißt, seinen Ausdruck „auch in einem unabhängigen deutsch-polnischen Dialog“. Es war eben dieser Dialog, der die Entstehung des neuen Kreisaus möglich machte und damit ein Projekt in Gang setzte, das inzwischen seit dreißig Jahren eine praktische Schule des Dialogs und der Zusammenarbeit über Grenzen hinweg darstellt. Denn die Stiftung wird nicht nur von Polen und Deutschen, sondern auch von Menschen verschiedener Weltanschauungen und unterschiedlicher politischer Orientierungen mitgeprägt.

Herausforderungen

Um dieses Erbe zu bewahren und weiterzugeben, und um es insbesondere erfolgreich zum Aufbau einer Kultur des Dialogs und der Verständigung zu nutzen, sehen wir uns innerhalb der Stiftung in der Pflicht, immer nach neuen Definitionen, Wegen und Strategien zu suchen, auf dass der Dialog tiefgründig und authentisch bleibt und sich praktisch auf den Wandel der Welt, in der wir leben, auswirkt.

Als diejenigen, die Jahr für Jahr mit tausenden jungen Menschen aus Polen und Deutschland arbeiten, die im Rahmen des internationalen Jugendaustausches nach Kreisau kommen, stehen wir vor der ständigen Herausforderung, eine bestimmte idealistische Vorstellung in Bildungspraxis umzuwandeln. Wir müssen die Welt, neue Konflikte, gesellschaftliche und politische Herausforderungen stets im Auge behalten und dementsprechend unsere Methoden anpassen und neue Rollen übernehmen. Vor allem aber müssen wir zugleich dafür Sorge tragen, dass Dialog kein abstrakter Begriff, keine Schilderung historischer Entwicklungen bleibt, die sich auf der Ebene von Staaten oder ganzer Gemeinschaften abspielen, sondern dass dieser zu einem Element der Haltung gegenüber anderen Mitmenschen wird und in dieser Weise täglich konkret zwischen Personen, die in Kreisau zusammenkommen, praktiziert wird.

Unsere Rolle verstehen wir dabei mehrdimensional. Die erste Dimension ist die Vermittlung von Dialogkenntnissen im historischen Kontext unter Ausnutzung des reichhaltigen Erbes von Kreisau. Dies äußert sich in der Präsentation und Miteinbeziehung historischer Beispiele, um auf diese Weise heute zu dialogfördernden Aktivitäten anzuregen und ein derartiges Engagement zu befördern. Beim Dialog in Kreisau handelt es sich um eine durch die Geschichte dieses Ortes vermittelte Begegnung von Menschen. So laden wir dazu ein, diese gemeinsam zu entdecken und daraus Inspirationen zu ziehen.

Die zweite Dimension umfasst die Suche nach Beispielen aus aller Welt, auch außerhalb europäischer Bezüge, und das fortgesetzte Bestreben, diese aufzuzeigen. Wir lassen uns dabei von der in Südafrika entstandenen Konzeption der „Deep Democracy” inspirieren (die davon ausgeht, dass im Zuge eines Dialogs alle Stimmen repräsentiert und gehört werden müssen, insbesondere die Stimmen marginalisierter, benachteiligter und ausgegrenzter Gruppen und Personen). Wir schöpfen aus der in Israel erarbeiteten „Betzavta”-Methode (die darauf ausgerichtet ist, mit Dilemmata und Konflikten als unausweichlichen Bestandteilen des Prozesses der Suche nach demokratischen Lösungen in der jeweiligen Gemeinschaft zu arbeiten). Wir nutzen die in Großbritannien konzipierte Methode philosophischer Überlegungen für Kinder („P4C”) sowie die Lehre des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire von der dialogischen Bildung. Wir führen an Schulen und Kindergärten das Programm „Schulen des Dialogs” ein, das aus dem niederländischen Programm „Vreedzame School” übernommen und adaptiert wurde. Wir erforschen Möglichkeiten, in sehr schwierigen Situationen zerstrittener Gemeinschaften zurechtzukommen. Und wir versuchen, diese an unsere Bedürfnisse und Kapazitäten anzupassen und sie mit anderen Edukatorinnen und Edukatoren zu teilen.

Die dritte Dimension unserer Tätigkeit besteht darin, jungen Menschen Kompetenzen zu vermitteln, die sie brauchen, um einen Dialog führen zu können. Der Aufbau künftiger Gemeinschaften hängt hauptsächlich von deren Fähigkeit ab, konstruktiv Ideen und Meinungen auszutauschen, aufmerksam und mit Neugier zuzuhören, zugleich den Status quo zu hinterfragen und sich eines kritischen Denkens zu bedienen (immer öfter auch gekoppelt mit der Fähigkeit, bewusst mit elektronischen Medien umgehen und Social-Media-Portale nutzen zu können, die tatsächlich voller Fake News und von verschiedenen Algorithmen abhängig sind, was uns in „Informationsblasen“ drängt und somit zu einem Anstieg der Polarisierung beiträgt).

Eine wichtige Fähigkeit – neben vielen weiteren, die mit interpersoneller Kommunikation verknüpft sind – besteht darin, ein Bewusstsein zu schaffen für die Rolle der Sprache in der Kommunikation und bei der Meinungsbildung und Prägung unseres Weltbildes. Und ein sehr wichtiger Aspekt des Dialogs, bei dem wir die Freiheit des Anderen wahren, ist es, in der täglichen Praxis die wertende und etikettierende Sprache so umzuwandeln, dass sie eine Achtsamkeit gegenüber der Vielfalt zum Ausdruck bringt. Folglich gilt es, die „Du-Botschaft” (die häufig in einem anklagenden Ton formuliert ist, bei dem die Verantwortung für die eigenen Worte, Emotionen, Bedürfnisse und Taten vermieden wird, was wiederum einen einfachen Weg darstellt, Spannungen herbeizuführen und Konflikte zu verschärfen) durch die „Ich-Botschaft“ zu ersetzen (mit der Beziehungen aufgebaut werden – unter Bezugnahme auf eigene Emotionen und in Übernahme von Verantwortung für sich selbst und den Gesprächsverlauf).

Darüber hinaus sind neben den Kompetenzen, die wir auf diese Weise entwickeln wollen, für uns auch Einstellungen wichtig. Und eine der wichtigsten unter ihnen ist aus der Sicht des Erbes von Kreisau der Mut – vor allem auch der Mut zum Dialog. Der heutige Dialog muss nicht unbedingt von solchem Schmerz und solchem Leid gekennzeichnet sein, wie es die Pioniere der deutsch-polnischen Versöhnung erfuhren, die zuweilen als Volksverräter desavouiert und aus ihren Gemeinschaften ausgeschlossen wurden. Aber auch heute ist die Aufnahme eines Dialogs mit vielfältigen Unannehmlichkeiten und einem Unbehagen verbunden. Und hier tritt der Mut, den Dialog aufzunehmen, auf den Plan. Zum einen der Mut, die Zone der eigenen Überzeugungen zu verlassen und sich gegenüber der Welt der Werte des Anderen zu öffnen. Der Dialog kann unsere Wahrnehmung der Welt, unsere Identität, unsere Beziehungen zu Mitmenschen verändern; darauf muss man gefasst sein. Zum anderen geht es auch um den Mut, sich der eigenen Gruppe entgegenzustellen, nach Verständigung mit denjenigen Menschen zu suchen, die als Feinde angesehen werden. Dies kann die Befürworter des Dialogs der Gefahr aussetzen, mit Vorwürfen konfrontiert, ja, sogar marginalisiert und ausgegrenzt zu werden. Und es geht schließlich auch um Mut, mit dem Schmerz umzugehen, der die Interaktion mit Andersdenkenden und andere Werte vertretenden Menschen bisweilen begleitet. Denn wir gehen davon aus, dass es bei der Vermittlung von Dialogkompetenzen nicht darauf ankommt, Menschen zu oberflächlichen Verhaltensweisen zu ermutigen, um sie freundlich und höflicher untereinander zu stimmen, sondern eher darum, in ihnen Toleranz zu wecken bzw. zu stärken gegenüber harten, schwer verständlichen Worten, die sie zu hören bekommen werden, wenn andere von ihrem Recht Gebrauch machen, ihren eigenen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen.

Die vierte Dimension, die nicht vergessen werden darf, bezieht sich auf die Etablierung des dialogischen Lernens als Bildungspraxis. Bei der Arbeit mit Jugendlichen, die an internationalen Austauschprogrammen oder anderen Bildungsprojekten teilnehmen, stehen gerade die jungen Menschen im Mittelpunkt des Bildungsprozesses. Sie sind somit ein Subjekt der Erkenntnis, und die Edukatorinnen und Edukatoren nehmen eine dialogische Haltung ein, die es erlaubt, Beziehungen zwischen ihnen aufzubauen. Dies führt zu einer spezifischen Art der Teilnahme, der Präsenz und des Engagements auf Grundlage des Gesprächs. Die Edukatorinnen und Edukatoren fungieren an dieser Stelle als Veranstalter eines dialogbasierten Lernens. Sie denken nicht darüber nach, was sie jungen Menschen vermitteln sollen, sondern vielmehr darüber, welches Problem sie den Jugendlichen zur Analyse und zur Lösung vorgeben sollen; ein Problem, das ihnen zu einem besseren Verständnis verhilft und sie befähigt, den Versuch zu unternehmen, die sie umgebende Wirklichkeit zu verändern. Der Prozess des dialogischen Lernens hat dabei einen zweiseitigen Charakter: Die Edukatorinnen und Edukatoren teilen ihre Werte, die Werte von Kreisau, mit und werden zugleich mit den von den Jugendlichen geteilten Werten beschenkt. In der von uns angestrebten dialogischen Beziehung beeinflussen alle Subjekte einander, sie prägen sich gegenseitig und bedingen ihre Existenz – Kreisau wäre nicht das, was es ist, ohne eine den Ort selbst mitgestaltende Jugend. Um aber gerade auch dafür zu sorgen, bemühen sich die Edukatorinnen und Edukatoren darum, in diesem Prozess möglichst viele unterschiedliche Sichtweisen, darunter auch die weniger offensichtlichen, die bisweilen nicht wahrgenommen, verschwiegen oder bewusst von der Mehrheit ausgeblendet werden, zu berücksichtigen. Diese Vorgehensweise führt zum gemeinsamen Teilen der Macht, die sonst meist in den Händen von Erwachsenen bleibt, zu Wechselbeziehungen, zu Partnerschaft und schließlich zu einer Teilhabe und zur Übernahme von Verantwortung für den Dialog und dessen Ergebnisse durch die Jugendlichen.

Die fünfte Dimension besteht darin, einen Raum zu schaffen für den Dialog außerhalb des Bildungsrahmens – für einen freien Gedankenaustausch außerhalb des Workshopbereichs, abends, inmitten eines sehr informellen Klimas, das aber zunächst einmal entstehen muss. Diesem Zweck dienen die ersten Stunden des Aufenthalts junger Menschen in Kreisau, die Integration, der langsame Aufbau einer neuen Gruppe, die sich nicht mehr nur aus Personen zusammensetzt, die sich von der Schule her kennen, sondern auch aus Leuten aus einem fremden Land, mit anderem kulturellen Hintergrund, die anderen Glaubens sind, die andere politische Anschauungen vertreten – denn ein Dialog muss mit der Begegnung und dem Knüpfen von Banden einhergehen. Es sind eben diese Bande, die den Raum zwischen Workshops, Ausflügen, Vorträgen ausfüllen, die eine wahrhaft menschliche Dimension offenbaren und den Auftakt bilden zu einer anderen Qualität des Dialogs. Zu Beginn einer jeden Jugendbegegnung einen Gruppenvertrag zu vereinbaren, der die Wertschätzung für die persönliche Würde aller Veranstaltungsteilnehmer beinhaltet, erlaubt es, Akzeptanz zu erfahren und für eine emotionale Geborgenheit im Dialog zu sorgen. Bindung führt zu Vertrauen, zum Glauben an die gute Absicht, dass die andere Seite auch an dem Gesprächsprozess teilnehmen möchte und auch ihr daran gelegen ist, die Welt gemeinsam zu entdecken.

Und schließlich die letzte Dimension; auch hier geht es darum, den Dialog im Umfeld der Stiftung vorzuleben – mit unterstützenden Organisationen, gesellschaftlichen Partnern und solchen in der Regierung, mit der lokalen Gemeinschaft, mit denjenigen, die unsere Tätigkeit kritisch beurteilen. Ein gutes Beispiel zu geben für offene Kommunikation, für den Aufbau einer Kultur der Verständigung und der Zusammenarbeit in einem sehr differenzierten Umfeld, in dem verschiedene, mitunter widersprüchliche Bedürfnisse und Interesse aufeinanderprallen, in einem Raum, der uns nicht immer wohlgesonnen ist, bedeutet für uns, danach zu streben, den Dialog zu institutionalisieren und die vergessenen Skripte der Zusammenarbeit wiederherzustellen, bei denen es sich einst um den Kreisauer Kreis, die „Solidarność“ oder den Runden Tisch handelte.

Die Stiftung – reich aufgrund des Erbes der deutsch-polnischen Versöhnung, des Kreisauer Kreises, der Gruppen der antikommunistischen Opposition, die allesamt einen ähnlichen Weg beschritten, und schließlich ob ihrer eigenen Geschichte – schafft unverändert einen einzigartigen Raum, der „von der Vielfalt der Menschen, die sich hier begegnen, und von deren Bereitschaft, einander zuzuhören, lebt” (so das Leitbild der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung). Diesen Raum erweitert und vertieft die Stiftung, indem sie aus dem Fundus moderner Bildungsmethoden – zugunsten des Dialogs und zu dessen Praktizierung im Alltag – schöpft. Sie schafft und entwickelt damit eine reale Alternative zur Logik der Spaltungen und Konflikte, die gegenwärtig unsere gesellschaftlichen und internationalen Beziehungen zu verwüsten droht. 

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Der Text wurde im Rahmen des Projektes Europäischen Akademie „Laboratorium für Dialog und Versöhnung” erstellt, das von der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung in Zusammenarbeit und mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen durchgeführt wurde. Er wurde veröffentlicht in: Ein Dialog findet (nicht) statt. Essays, Tomasz Skonieczny (Hg.), Wrocław 2020.

Europäische Akademie

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