Obwohl die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission seit fast einem halben Jahrhundert tätig ist, gibt es in den Schulbüchern beiderseits der Grenze immer noch eine Asymmetrie der Informationen über das Nachbarland, seine Geschichte und Erinnerungskultur. Daher war es von größter Bedeutung, dass die Schulbuchkommission im Jahr 2008 mit der Arbeit an einem sogenannten deutsch-polnischen Geschichtsbuch für die Sekundarstufe in Polen und Deutschland begann.

Zunächst wurden die Kerncurricula in Polen und in den 16 deutschen Bundesländern untersucht, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei den Inhalten des Geschichtsunterrichts in der Primarstufe und der Sekundarstufe I zu ermitteln; und dann wurden die Arbeiten aufgenommen. Nach der Einführung der jüngsten Bildungsreform in Polen wurde beschlossen, dass das entstehende Schulbuch zur Verwendung in Grundschulen (Klassen 5-8) bestimmt wird. Im Sommer 2020 wurde mit der Veröffentlichung des letzten Bandes zur neuesten Geschichte die Arbeit an der vierbändigen Schulbuchreihe mit dem Titel Europa. Unsere Geschichte abgeschlossen, die in Polen von dem Verlag Wydawnictwa Szkolne i Pedagogiczne [Verlagshaus für Schule und Pädagogik] und in Deutschland von der Eduversum GmbH publiziert wurde. Die zuvor erschienenen Bände widmeten sich der Vorgeschichte bis zum Mittelalter (Bd. 1), der Neuzeit (Bd. 2) und der Zeit von 1815 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Bd. 3).  

Das Schulbuch wurde von polnischen und deutschen Autor*innen geschrieben, die immer wieder Textfragmente und Kommentare austauschten, die in beide Sprachen übersetzt wurden. Alle paar Monate oder sogar Wochen fanden Sitzungen des Redaktionsteams statt, das nicht nur für die korrekte Formulierung der Texte, sondern auch für deren didaktische Aufbereitung zuständig war. Es galt die Regel, dass jede Seite in beiden Sprachfassungen fast den gleichen Inhalt haben sollte. Im Laufe der Arbeit stellte sich jedoch heraus, dass es entgegen den ursprünglichen Annahmen nicht möglich war, alle Inhalte des polnischen Kerncurriculums in die deutsche Fassung zu übernehmen. Ausgewählte Detailfragen, die die deutschen Schüler unnötig belasten würden (z.B. Zerfall Polens in Teilherzogtümer), wurden daher in die polnische nationale Ergänzung zu jedem der vier Hauptbände aufgenommen.

Dank des Schulbuchs können die Schülerinnen und Schüler die Geschichte ihres Nachbarlandes kennenlernen und verstehen, was in der eigenen Landesgeschichte ein einzigartiger Prozess ist und was sich in breitere europäische Trends einfügt oder zumindest mit den Erfahrungen ihrer Nachbarn vergleichbar ist. Deshalb ist es zum Beispiel der Vergleich zwischen dem endgültigen Zusammenbruch der Republik Polen-Litauen 1795 und die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 und der Unterschiede in der Erinnerung an Napoleon im zweiten Band so wichtig. Solche Vergleiche wiederum ermöglichen ein Verständnis der unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Europa.

Ziel des Schulbuchs ist es, die Geschichte Europas und wenn möglich die Weltgeschichte und in diesem Zusammenhang auch die deutsch-polnischen Beziehungen darzustellen. Polnische Schüler*innen erfahren mehr darüber, wie ihre Region im Westen wahrgenommen wird, deutsche Schüler*innen lernen dagegen die bisher oft unbekannte Geschichte Polens und der Region Mittel- und Osteuropas kennen. Dadurch wird es möglich, den Begriff „Europa“ zu erweitern. Daher auch der Titel der gesamten Reihe: Europa. Unsere Geschichte.

Das durch das Expert*innengremium angenommene Grundprinzip ist die Multiperspektivität – nicht nur die polnisch-deutsche, sondern auch mit Blick auf Zentrum und Peripherie, Kolonisatoren und Kolonisierten, Frauen und Männer usw. Zweitens haben die Autor*innen das Prinzip der Kontroversität angewandt, d.h. sie weisen auf verschiedene alternative Sichtweisen und Interpretationen von Ereignissen und Prozessen hin. Der Perspektivwechsel und damit das Ausbilden des kritischen Denkens ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, die Geschichte beider Länder aus einer breiteren als der nationalen Perspektive zu analysieren und europäische Wechselwirkungen und Zusammenhänge zu erkennen.

Im Lehrbuch wurde eine Rubrik Blickwinkel eingeführt, die unterschiedliche Meinungen zu demselben Thema nebeneinander stellt – manchmal widersprüchliche, manchmal nur als Hinweis auf verschiedene Aspekte des jeweiligen Themas, was es den Schülern ermöglicht zu verstehen, dass es in vielen Fällen nicht nur eine „historische Wahrheit“ gibt. Ein Beispiel für diesen Ansatz ist die Gegenüberstellung der Aussagen der Professoren Andrzej Ajnenkiel und Włodzimierz Borodziej darüber, was das „Wunder an der Weichsel“ war. Darüber hinaus wurden Informationen über gegenseitige kulturelle Einflüsse aus Polen und Deutschland zur Verfügung gestellt oder Regionen vorgestellt, die aufgrund einer schwierigen Vergangenheit sowohl trennen als auch verbinden. Eine weitere interessante Maßnahme ist die Einführung der Rubrik Vergangenheit in der Gegenwart, die zeigt, wie ausgewählte Fakten oder Ereignisse in kollektiver Erinnerung funktionieren. Tatsächlich war die Erinnerung einer der Streitpunkte bei der Arbeit am Schulbuch, ebenso wie bestimmte didaktische oder übersetzerische Aspekte.   

In Polen wartet der letzte Band des Geschichtsbuchs noch auf das Ergebnis des Überprüfungsverfahrens, während es in Deutschland bereits in allen Bundesländern für den Schulgebrauch genehmigt wurde, mit Ausnahme Bayerns – wegen unzureichender Informationen zur bayerischen Regionalgeschichte. Der letzte Band erhielt zudem die renommierte Auszeichnung „Schulbuch des Jahres“ 2021 in der Kategorie „Gesellschaft“ in Deutschland, verliehen vom Georg-Eckert-Institut, der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Didacta-Verband.

Erwähnenswert ist auch, dass in den vielen Jahren der Arbeit an dem Geschichtsbuch etwa 100 Workshops für polnische und deutsche Lehrkräfte durchgeführt wurden und etwa 100 Präsentationen des Schulbuchs bei verschiedenen wissenschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen stattgefunden haben. Dies ist ein unschätzbarer Wert, der bereits jetzt in den Schulen in beiden Ländern liegt.

Der Text basiert auf dem Artikel: B. Dziewanowski-Stefańczyk, Pojednanie poprzez podręcznik, „Więź”, 4/2020, S. 200-210

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Bartosz Dziewanowski-Stefańczyk – promovierter Historiker, stellvertretender Leiter der wissenschaftlichen Abteilung des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität und Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin und wissenschaftlicher Sekretär der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission und des Projekts des Deutsch-Polnischen Geschichtslehrbuchs. Seine Forschungsinteressen umfassen Kulturdiplomatie, Geschichtspolitik und die deutsch-polnischen Beziehungen.

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