Im Mai 2024 kann man sich – zumindest auf den ersten Blick – kaum einen ungünstigeren internationalen Kontext für die Feier des 20. Jahrestags der EU-Mitgliedschaft Polens vorstellen als jene Bedingungen, die weiterhin direkt hinter der östlichen Außengrenze der EU und Polens herrschen. Allerdings bieten der seit über zwei Jahren andauernde Krieg Russlands gegen die Ukraine sowie die beunruhigende Entwicklung der aktuellen politischen Lage in Georgien, die ebenfalls ein Ergebnis russischer Einmischungsversuche ist, einen Anlass, über die Bedeutung des europäischen Integrationsprozesses für Polen – und umgekehrt – nachzudenken.

 

Bei einem Rückblick auf das Datum des polnischen EU-Beitritts im Mai 2004 muss daran erinnert werden, dass dieser Moment sowohl ein Ende als auch einen Anfang markierte. In gewisser Weise schloss er die sogenannte postkommunistische Periode ab, in der Polen – ebenso wie Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen und Slowenien sowie Bulgarien und Rumänien, die beide drei Jahre später der EU beitraten – einen tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel durchlaufen hatte, der die Aufnahme in den Gemeinsamen Markt und die Institutionen der europäischen Gemeinschaften ermöglichte, die über ein halbes Jahrhundert zuvor, noch während der geopolitischen Teilung des europäischen Kontinents im Kalten Krieg, geschaffen worden waren. Der in diesem Zusammenhang in publizistischen Veröffentlichungen oft zitierte Ausdruck von einer „Rückkehr nach Europa“ – beispielsweise auf der Titelseite des Wochenmagazins Polityka in seiner Ausgabe Nr. 18 (2450) vom 1. Mai 2004 – spiegelte die Zufriedenheit vieler Polinnen und Polen mit jenen Errungenschaften eindrucksvoll wider, die in den anderthalb Jahrzehnten seit Beginn der politischen Transformation im Jahr 1989 erreicht worden waren.

 

Zugleich stellte dies den Beginn einer neuen Ära dar, mit einer Mischung von Gefühlen, die für solche Momente typisch sind – das Spektrum reichte von Hoffnung bis Angst angesichts der neuen Chancen, aber auch Herausforderungen, denen sich der polnische Staat in dieser ständig wachsenden Gruppe von Nationen, die trotz bestehender Differenzen gemeinsam über ihr Schicksal entscheiden, gegenübersah. Doch auch das Erreichen dieses historischen Meilensteins, der nach Meinung vieler Polinnen und Polen eine gewisse Normalität hinsichtlich der Zugehörigkeit ihres Landes zum Westen (die durch den NATO-Beitritt im Jahre 1999 zusätzlich gestärkt worden war) wiederhergestellt hatte, konnte nicht die Tatsache aus ihrem Bewusstsein verdrängen, dass der Anführer eines wichtigen – und Polen grundsätzlich wohlgesinnten – europäischen Partners, nämlich Frankreich, mit offen zur Schau gestellter Verärgerung auf die Versuche Polens und anderer mitteleuropäischer Länder reagiert hatte, sich in der Gestaltung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, im Kontext des Streits um den Sinn und Zweck des Krieges im Irak, eine gewisse Unabhängigkeit vom sogenannten „alten Europa“ zu erarbeiten. Aus heutiger Sicht scheint es wohl eher so zu sein, dass die westeuropäischen Länder im Jahr 2003 noch nicht ganz dazu bereit waren, diese neue Normalität einer europäischen Polyphonie in der erweiterten EU vollständig zu akzeptieren.

 

Unter diesen Gesichtspunkten lässt sich die Bilanz der nunmehr zwanzig Jahre währenden EU-Mitgliedschaft Polens nicht anders als positiv beurteilen, insbesondere angesichts des Krieges in der Ukraine. Die Folgen der russischen Aggression für die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU verdeutlichen den Weg Polens als eines europäischen Akteurs, der es von der reinen Mitgliedschaft in der EU zur vollständigen – und schließlich auch anerkannten – Handlungsfähigkeit auf der internationalen Bühne gebracht hat. Man sollte sich vor Augen führen, dass weder die russische Aggression gegen Georgien im Jahr 2008 noch die Annexion der Krim, ja noch nicht einmal Russlands Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken in Donezk und Luhansk im Jahr 2014 grundsätzlich die kritische westeuropäische Einschätzung des harten Kurses Polens (und der baltischen Staaten) gegenüber den Versuchen des Kremls, die europäische Territorialordnung zu untergraben, korrigierten. Erst der durch die umfassende Invasion Russlands in der Ukraine im Februar 2024 ausgelöste Schock führte zu einem Paradigmenwechsel in der Politik Deutschlands, Frankreichs und anderer führender EU-Länder gegenüber Moskau. Obwohl es sie einige Mühe gekostet hat, mussten die Regierungen in Berlin und Paris am Ende anerkennen, dass die im Verlaufe vieler Jahre vorgetragenen Einschätzungen polnischer Experten und Entscheidungsträger nicht etwa auf einer atavistischen, historisch motivierten Russophobie beruhten, sondern das Ergebnis einer gründlichen Analyse der wahren Absichten der russischen Führung waren.

 

Zwar kann man die verspätete Besinnung des deutsch- französischen Tandems bedauern, das über einen langen Zeitraum die Illusion „der Möglichkeit einer Einigung mit Putin“ aufrechterhalten wollte. Dennoch ist anzuerkennen, dass die Revision der damaligen Position – und insbesondere der polnische Beitrag zu diesem Schritt – einen echten Durchbruch darstellt. Interessanterweise besteht trotz der generell tief gespaltenen polnischen Politik und trotz der bestehenden Unterschiede zwischen den wichtigsten Parteien bei der Festlegung der Richtungen und Prioritäten der Außenpolitik eine grundsätzlich gemeinsame, beinahe parteiübergreifende Wachsamkeit in Fragen der europäischen Sicherheit. Die Wiederauferstehung des russischen Imperialismus und seiner ideologischen Vorstellung von „Russki Mir“ (dt. Russische Welt) schlug sich in den Programmen der meisten polnischen politischen Gruppierungen nieder.

 

Die Erfolge der EU-Mitgliedschaft Polens lassen sich vermutlich am Wirtschaftswachstum, an Investitionen in die Infrastruktur oder an der Steigerung des Lebensstandards festmachen, wobei diese, abgesehen von den erhaltenen EU-Mitteln, zugleich auf den enormen Einsatz der polnischen Gesellschaft zurückzuführen sind. Allerdings scheint der Vergleich des wachsenden – wenn auch in direkter Hinsicht eher qualitativen als quantitativen – Einflusses Polens auf die Festlegung der Richtung der EU-Außenpolitik in den letzten zwanzig Jahren ein ebenso guter Indikator zu sein. Als wichtiger Akteur im Kreise der mitteleuropäischen Mitglieder der Europäischen Union hat Polen – wenn auch nicht ohne Misserfolge oder Schwierigkeiten – entscheidend zur Stärkung Europas und der Idee des Westens beigetragen und beteiligt sich auch weiterhin daran.

Dr. habil. Pierre Frederic Weber, 

außerordentlicher Professor am Institut für Geschichte der Universität Stettin, Mitglied des Stiftungsrats der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung

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