Der vorliegende Text ist der verschriftlichte Eröffnungsvortrag zur Veranstaltung „Verantwortung, Gemein-schaft, Europa. Das Erbe des Kreisauer Kreises heute“. Diese fand am 2.9.2022 im Haus am Dom in Frankfurt am Main in Zusammenarbeit der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, dem Deutschen Polen Institut, dem Haus am Dom und der Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau statt.
Lektionen des Kreisauer Kreises
„Die geopolitischen Ferien sind zu Ende“, gab der polnische Diplomat Marek Prawda unlängst zu bedenken. Die Epoche des relativen Wohlstands und der Sicherheit, die uns in den letzten Jahrzehnten begleitet hat, neigt sich ihrem Ende zu. Es kommen neue Zeiten mit großen Herausforderungen. Das Vermächtnis des Kreisauer Kreises kann uns helfen, ihnen erfolgreich die Stirn zu bieten.
Dr. habil. Robert Żurek
TEIL I
Was den Kreisauer Kreis auszeichnete
An Pfingsten 1942 hat sich im niederschlesischen Kreisau eine sonderbare Gruppe von Menschen zusammengefunden. Menschen, die kaum hätten unterschiedlicher sein können was ihre Berufe, ihre soziale Stellung, ihre Weltanschauungen oder ihre politischen Sympathien angeht. Und es war kein Zufall, es war so gewollt, so war der Kreisauer Kreis.
Diesem Treffen folgten noch zwei weitere – im Herbst 1942 und dann an Pfingsten 1943. An diesen drei Treffen nahmen jeweils zehn bis elf Personen teil. Das waren nicht alle Mitglieder des Kreisauer Kreises, aber so viele durften sich unter den Bedingungen der Konspiration zusammenfinden, ohne gleich von der politischen Polizei entdeckt zu werden.
Der Kreisauer Kreis war eine zivile Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus. Die drei Treffen in Kreisau waren gewisse Höhepunkte seiner Tätigkeit, aber im Stillen hat der Kreis fast durchgehend vier Jahre sehr intensiv gearbeitet, von 1940 bis 1944. Noch vor dem 20. Juli 1944 wurde der Mitbegründer, Helmuth James von Moltke, verhaftet. Danach haben sich einige Mitglieder des Kreises an dem Umsturzversuch des 20. Julis beteiligt, am Ende wurden fast alle in Gewahrsam genommen und acht von ihnen von der Nazi-Justiz hingerichtet.
Es war eine sehr reife und interessante, in mancherlei Hinsicht die reifste und interessanteste Widerstandsgruppe im Nazi-Deutschland. Um diese These zu belegen, möchte ich vier Merkmale darstellen, die für den Kreisauer Kreis charakteristisch waren. Und das waren die Zielsetzung, die Zusammensetzung, die Arbeitsweise und die Denkweise.
Die Zielsetzung. Es mag erstaunlich sein, aber die Kreisauer haben sich inmitten des nationalsozialistischen Infernos eigentlich kaum mit der Gegenwart beschäftigt. Sie haben als Gruppe kein Attentat, keinen Umsturz vorbereitet, auch wenn einzelne Mitglieder hinterher zu den Verschwörern des 20 Juli gehörten. Stattdessen haben sie sich mit der Vergangenheit und mit der Zukunft auseinandergesetzt. Sie sind der Frage nachgegangen, wie es möglich war, dass Deutschland – der Staat wie die Gesellschaft – in der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus so versagt hatte. Dass diese Eruption des primitiven Bösen mitten in Europa möglich gewesen war. Die Beantwortung dieser Frage war für die Kreisauer zentral wichtig, denn nur eine zutreffende Antwort auf sie ermöglichte es dem Kreis, seine eigentliche Zielsetzung sinnvoll anzugehen, nämlich eine Nachkriegsordnung für Deutschland und für Europa vorzuschlagen, die eine Wiedergeburt einer verbrecherischen Diktatur unmöglich machen würde.
Die Zusammensetzung. Die Kreisauer haben eine sehr heterogene Koalition gebildet. Adelige und Großgrundbesitzer trafen auf Aktivisten der Arbeiterbewegung, Zentrumspolitiker auf Sozialdemokraten, evangelische Theologen auf katholische Priester, dazu noch die Jesuiten, die damals unter den Protestanten einen besonders schlechten Ruf hatten. Vor 1933 hätten all diese Menschen wahrscheinlich heftig untereinander gestritten, aber jetzt machten sie gemeinsame Sache. Warum? Angesichts der Übermacht des Bösen, aber vor allem deshalb, weil eine Nachkriegsordnung, wenn sie tragfähig sein sollte, eine möglichst breite gesellschaftliche Akzeptanz erhalten musste. Die Entwürfe sollten also von einer möglichst breiten Repräsentanz der Gesellschaft erarbeitet werden.
Die Arbeitsweise. Sie war innovativ und effektiv. Es gab kleine Arbeitsgruppen, in denen auch auf externe Expertise zurückgegriffen wurde, um sich mit unterschiedlichen Themen zu beschäftigen und Konzepte zu entwickeln. Diese Konzepte wurden dann in den drei Plenumssitzungen in Kreisau durchdiskutiert und fanden schließlich Eingang in die Dokumente der Gruppe.
Und zuletzt die Denkweise. Man könnte lange über das manchmal utopische, aber dennoch sehr interessante Programm des Kreisauer Kreises ausführen. Ich möchte hier nur zwei Aspekte kurz erwähnen.
Innenpolitisch: Es betont die Verantwortung der einzelnen Menschen und unternimmt eine Abkehr von der Konzeption des Untertan. Weg von dem Staat, der den Bürger vereinnahmt und sein Leben bestimmt, und weg von einem Bürger, der als Befehlsempfänger agiert und sich der Obrigkeit bedingungslos fügt. Hin zu einem gestaltenden, kreativen, kritischen Bürger, der Verantwortung für das Gemeinwohl übernimmt.
Und außenpolitisch: Die Kreisauer denken europäisch. Sie sehen die Zukunft in einer europäischen Föderation. Weg vom Nationalstaat, von den nationalen Egoismen und der Konkurrenz, hin zu einer sehr engen europäischen Zusammenarbeit und Solidarität.
TEIL II
Die Lektionen des Kreisauer Kreises - Zwischen Vergangenheit und Zukunft
Wie bereits erwähnt, befasste sich der Kreisauer Kreis eigentlich nicht mit der Gegenwart, sondern mit der Geschichte und Zukunft. Das gilt in gewisser Hinsicht auch für die Stiftung Kreisau. Auch wir, die wir heute an seiner alten Wirkungsstätte arbeiten, sind irgendwie zwischen der Vergangenheit und Zukunft ausgebreitet. Wir schöpfen aus der Geschichte, aus dem historischen Erbe des Ortes, um an einer guten Zukunft für Deutschland, Polen und Europa zu arbeiten. Um den Jugendlichen, die unsere Internationale Jugendbegegnungsstätte besuchen, Inspiration für Haltungen und Handlungen zu liefern, die eben zur Gestaltung einer guten Zukunft beitragen. Der Kreisauer Kreis ist uns dabei eine wichtige Stütze. Aber was können wir denn konkret aus seiner Geschichte lernen? Welche sind denn die wichtigsten Lektionen des Kreisauer Kreises? Meiner Meinung nach sind es sieben, die wir besonders verinnerlichen sollen.
Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen
Die erste Lektion: ein integrer, ein reifer Mensch muss gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, zumal in Krisensituationen. Wenn wir näher hinschauen, werden wir feststellen, dass dieses Bewusstsein, Verantwortung übernehmen zu müssen, die eigentliche Motivation der Kreisauer ausmachte, in den Widerstand zu gehen. Es gibt hierzu zwei bekannte Zitate von den beiden Begründern und Anführern der Gruppe. Helmuth James von Moltke schreibt im Oktober 1941, bezugnehmend auf die NS-Verbrechen: „darf ich denn das erfahren und trotzdem in meiner geheizten Wohnung am Tisch sitzen und Tee trinken? Mache ich mich dadurch nicht mitschuldig?“ Und Peter Graf Yorck von Wartenburg stellt im November 1938, unter dem Eindruck der Ereignisse, fest: „dem muss baldigst entgegengetreten werden“. Obwohl die beiden Zitate der beiden Väter des Kreisauer Kreises aus einer anderen Zeit stammen, bilden sie doch gewissermaßen eine Einheit, gehören zusammen.
Die Frage, die Moltke formulierte, holt wohl jeden Menschen irgendwann ein. Unser Gewissen stellt uns diese Frage in unterschiedlichen Kontexten. Und als mündige, aufrichtige Personen müssen wir immer wieder im Stande sein zu antworten: „dem muss baldigst entgegengetreten werden“. Mit anderen Worten: In dieser Situation muss ich handeln. Ich muss die Verantwortung übernehmen. Ohne diese Fähigkeit werden Menschen zu Mitläufern, und die Gesellschaft rutscht in eine Kultur der Passivität, des Wegschauens, des Rückzugs ins Private ab.
Dem Bösen kompromisslos widerstehen
Lektion zwei: Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen bedeutet manchmal, dem Bösen, das die Gesellschaft bedroht, kompromisslos zu widerstehen. Der geniale polnische Geiger jüdischer Abstammung Bronisław Huberman – übrigens ein vergessener Vordenker des vereinten Europas – hat im Jahre 1936 den deutschen Intellektuellen vorgeworfen, mitschuldig an dem Sieg des Nationalsozialismus zu sein, weil sie nicht genug gegen das Unheil getan hätten: „Deutsche Geistesführer finden von allem Anfang an keine andere Reaktion auf diesen Anschlag auf die heiligsten Güter der Menschheit als Kokettieren, Paktieren, Kooperieren.“ Auch heute ist die Anbiederung an das Böse allzu populär, trotz der abschreckenden historischen Beispiele. Ohne das konsequente „Kokettieren, Paktieren, Kooperieren“ käme es wahrscheinlich weder zum Angriff Hitlers auf Polen 1939 noch zur Attacke Putins auf die Ukraine 2022. Ähnlich ist es auch in unserem Alltag, weil es allzu menschlich ist, den Schwierigkeiten und Bedrohungen aus dem Weg zu gehen. Die Kreisauer ermahnen uns, dass es manchmal der falsche Weg ist. Dass Dialog und Kompromiss keine universalen Heilmittel sind. Wenn das Böse ein gewisses Ausmaß überschreitet, darf es nicht mehr besänftigt, sondern muss nur noch bekämpft werden.
Zivilcourage und Opferbereitschaft
Die Lektion Nummer drei: Für die Übernahme der Verantwortung und den kompromisslosen Widerspruch sind Zivilcourage und Opferbereitschaft notwendig. Bis hin zur Bereitschaft, notfalls den höchsten Preis zu bezahlen. Julius Leber, Sozialdemokrat und Mitglied des Kreisauer Kreises, schrieb in seinem Abschiedsbrief vor der Hinrichtung: „Für eine so gute und gerechte Sache ist der Einsatz des eigenen Lebens der angemessene Preis.“ Und Alfred Delp, der Jesuit: „Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“
Von uns wird solches Heldentum nicht erwartet, aber das Verlassen der Komfortzone schon, gerade heute, da sich über unseren Köpfen immer dunklere Wolken zusammenziehen. Die Klimakatastrophe bahnt sich an, die mit ihr zusammenhängende Migrationskrise wird sich wahrscheinlich verschärfen. Der liberalen Demokratie geht es in der ganzen westlichen Welt nicht gut, das Projekt „gemeinsames Europa“ ist bedroht. Die Atommacht Russland hat einen Angriffskrieg von Dimensionen begonnen, die Europa seit 1945 nicht gesehen hat. Die wirtschaftliche Entwicklung ist besorgniserregend. In Deutschland gab es seit 70 Jahren nicht mehr solch eine hohe Inflation wie heute. Unsere Gesellschaften sind verunsichert, desorientiert, verängstigt.
Ja, „die geopolitischen Ferien sind zu Ende“, wie der polnische Diplomat Marek Prawda unlängst gesagt hat. Die Epoche des relativen Wohlstands und der Sicherheit, die uns in den letzten Jahrzehnten begleitet hat, neigt sich ihrem Ende zu. Es kommen neue Zeiten mit neuen, großen Herausforderungen. Auch von unserer Zivilcourage und Opferbereitschaft hängt ab, inwiefern sie bewältigt werden.
Verantwortlich handeln
Lektion vier: Verantwortung übernehmen heißt auch verantwortlich handeln. Selbst große Zivilcourage und Opferbereitschaft können mehr Schaden anrichten als helfen, wenn sie unüberlegt zum Einsatz kommen. Die Polinnen und Polen, eine Nation von heldenhaften aber am Ende fast immer verlorenen und verlustreichen Aufständen, können davon ein Lied singen. Aber auch davon, dass man aus den historischen Erfahrungen lernen kann. Die „sich selbst beschränkende Revolution“ der Solidarność – wie Jadwiga Staniszkis dieses Phänomen bezeichnet hat – war ein beeindruckend erfolgreicher Versuch, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen und konsequent verantwortlich zu handeln.
Auch in der deutschen Geschichte lassen sich zahlreiche Beispiele eines couragierten und edelmutigen, aber am Ende doch kontraproduktiven Verhaltens finden. Die Kreisauer handelten jedoch durchdacht, strukturiert, unter Berücksichtigung ihrer Möglichkeiten und Einschränkungen. Auch deswegen – wenn auch nicht nur deswegen –, planten sie kein Attentat auf Hitler. Sie bevorzugten solche Handlungsbereiche, in denen sie tatsächlich etwas bewirken konnten, weil sie dazu Möglichkeiten und Kompetenzen hatten. Deshalb haben sie hauptsächlich die Geschichte analysiert und Zukunftskonzepte entworfen.
Trennendes Überwinden
Lektion fünf: Angesichts des Bösen ist es notwendig, zweitrangige Konflikte beizulegen, Differenzen zu überwinden, sich zusammenzuschließen und solidarisch zu agieren. Wie bereits erwähnt, der Kreisauer Kreis war eine breite Koalition von Menschen sehr unterschiedlicher Weltanschauungen und politischer Orientierung. Im Nachhinein hat Freya von Moltke gesagt, wichtiger als die inhaltlichen Details der Pläne sei der Einigungsprozess selbst gewesen. Manchmal unterschätzen wir die Bedeutung des Zusammenkommens, des Dialogs, der Überwindung der Gegensätze. Aber ausgerechnet heute, in der Zeit der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft, sind Einigungsprozesse von zentraler Bedeutung.
Das gilt sowohl für die nationale, als auch für die europäische Ebene. Wie manche andere Vordenker der Einigung Europas erkannten auch die Kreisauer in einem Zusammenschluss der europäischen Nationen und Staaten ein Heilmittel gegen die nationalen Konflikte auf unserem Kontinent. Die Einheit Europas ist heute, angesichts der zahlreichen und ernsthaften Herausforderungen, von herausragender Bedeutung. Zu dieser Einheit müssen wir, im Rahmen unserer Möglichkeiten, beitragen.
Integrierende Wertealternative
Lektion sechs: Man muss sich auf eine ideelle, integrierende Wertealternative zu dem Bösen rückbesinnen. Für die Kreisauer war es das Christentum. In dem wohl wichtigsten Dokument „Grundsätze für die Neuordnung Deutschlands“ aus dem Jahre 1943 steht: „Die Regierung des deutschen Reiches“, also Nachkriegsdeutschlands, „sieht im Christentum die Grundlage für die sittliche und religiöse Erneuerung unseres Volkes. Für die Überwindung von Hass und Lüge, für den Neuaufbau der europäischen Völkergemeinschaft.“
Solche verbindenden Werte brauchen wir auch heute. Ohne Werte, die uns integrieren aber auch motivieren, tun wir uns schwer in der Auseinandersetzung mit jenen Kräften, die die Errungenschaften der liberalen Demokratie als wertlos in Frage stellen. Aber gerade hier scheinen wir heute ein Problem zu haben, denn was sind das für Werte, die uns verbinden und beflügeln? Das Christentum ist es für viele nicht mehr. Die universalen Werte vielleicht? Aber sind sie nicht zu allgemein und zu vielsagend, dass wir damit wenig anfangen können? Und die viel besagten europäischen Werte? Haben wir nicht die Schwierigkeit, sie eindeutig zu benennen?
Über Werte nachzudenken, die inklusiv und zukunftsweisend sind, ist eine der Schlüsselaufgaben der nahen Zukunft. Um noch einmal Marek Prawda zu zitieren: „Europa wird klar feststellen müssen, wodurch es definiert wird, was es verteidigen will und welchen Preis es bereit ist, dafür zu zahlen“
An die Zukunft denken
Und schließlich die Lektion Nummer sieben: Inmitten der Krise der Gegenwart darf man nicht nur an die direkte Überwindung dieser Krise denken, man soll auch die fernere Zukunft planen.
An diese Keime müssen wir, glaube ich, auch heute denken, im Kleinen wie im Großen. Ein Beispiel, das mich bewegt, ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wir konzentrieren uns darauf, die Ukraine in ihrem Überlebenskampf nach Kräften zu unterstützen. Das ist richtig und notwendig. Aber sollen wir nicht gleichzeitig eine Zukunftsperspektive entwerfen, gerade für die Menschen in Russland? Ihnen dabei helfen, eine Alternative zum imperialen Denken zu finden?
In diesen Bereich gehört auch die Frage, inwiefern wir die jungen Menschen dabei unterstützen, die Zukunft konstruktiv zu gestalten, und zwar nach ihren, und nicht nach unseren Vorstellungen.
Wenn man in Kreisau arbeitet, sich mit dem Ort und seinem historischen Erbe identifiziert, läuft man Gefahr, den Kreisauer Kreis zu verklären. Das sollten wir nicht tun. Die Gruppe hatte ihre Defizite, letzten Endes scheiterte sie auch und ihre Pläne konnten weitgehend nicht verwirklicht werden. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass uns das Vermächtnis des Kreises bei der Gestaltung der Zukunft helfen kann. Die Lektionen des Kreisauer Kreises bleiben aktuell.