Die Gedenkstätte in Kreisau erinnert an den Widerstand des Kreisauer Kreises gegen den Nationalsozialismus, aber auch an die Aktivitäten der antikommunistischen Opposition in Mittel- und Osteuropa. Von Anfang an war klar, dass diese Verbindung nicht leicht vermittelbar ist, schließlich ist Kreisau als Ort nur im ersteren Fall unmittelbar historisch authentisch. Die anti-kommunistische Opposition verbindet sich mit Kreisau, da eine Vielzahl der Gründungsväter und ­-mütter der Stiftung aus diesen Kreisen kamen. Die Gedenkstätte in Kreisau hat mit der vergleichenden Vermittlung beider Oppositionsgeschichten das Verständnis von Widerstand aus der historischen Erfahrungsperspektive einer Nation herausgenommen.

Aus der langjährigen Arbeit in Kreisau wissen wir sehr gut, dass es keine leichte Aufgabe ist, anhand bestimmter historischer Ereignisse und Persönlichkeiten, widerständige Haltungen und widerständiges Handeln als Solches vollumfassend zu verstehen. Eine solche systematische Reflexion erscheint mir aber gerade in der aktuellen Situation geboten, wo mit Begriffen wie Diktatur und Widerstand sehr leichtfertig umgegangen wird – insbesondere bei Gegnern von Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie.

  • „Widerstand“ kann sehr verschiedene Formen gesellschaftlicher oder politischer Verweigerung oder Gegenaktivität bezeichnen. In dieser Grundbedeutung ist weder eine Wertung noch eine Aussage über Motive oder Ziele enthalten, sondern es geht zunächst vor allem um ein Wogegen.

  • Zugleich nehme ich wahr, dass „Widerstand“ heute in der deutschen Öffentlichkeit ein überwiegend positiv konnotierter Begriff ist. Das kommt daher, dass demokratische Gesellschaften viele Möglichkeiten zur Artikulation oder Organisation von Gegnerschaft bieten, die wir auch unterschiedlich nennen: „Demonstration“, „Opposition“, etc. Die Bezeichnung „Widerstand“ wird also sinnvollerweise vor allem im Falle nicht-demokratischer Systeme verwendet, insbesondere bei autoritären Regimen und Diktaturen. Mit dieser Verwendung ist also auch zugleich eine Aussage über das gesellschaftliche System und eine Wertung (gerecht vs. ungerecht) verbunden.

  • Zurück in die Geschichte: Bei manchen historischen Widerstandsgruppen mag die Opposition gegen die Diktatur ein entscheidendes Motiv und wichtiges verbindendes Element gewesen sein. Dennoch braucht Widerstand – hier wird der Kreisauer Kreis wichtig – außer dem Wogegen auch ein Wofür. Zum Widerstand gehört also die Vision einer Alternative, die beispielsweise bestimmte Werte betont oder ein konkretes Gesellschaftssystem im Blick hat. Während der nationalsozialistischen Diktatur gingen die politischen Vorstellungen von kommunistischen Gruppen einerseits und konservativen Kreisen andererseits stark auseinander. Diese unterschiedlichen Zielvorstellungen hatten eine Fragmentierung des Widerstands in Deutschland zur Folge.

  • Die Kreisauer Dauerausstellung „In der Wahrheit leben“ stellt Personen und Gruppen vor, die alle Widerstand gegen ein totalitäres Regime geleistet haben. Die Gegenüberstellung zweier Systeme und die Auswahl der Personen und Gruppen in dieser Ausstellung nehmen den/die Betrachter*in mit auf die Suche nach den geistigen Fundamenten des Widerstandes. Häufig spielen bei den in der Ausstellung vorgestellten Personen und Gruppen christliche Überzeugungen eine Rolle. Ausgehend von sehr unterschiedlichen biografischen Hintergründen und angesichts des vielfachen Versagens der Kirchen im NS-Staat hat sich der Kreisauer Kreis seine Rückbindung an das Christentum als grundlegendes Wertesystem in der Präambel seiner Neuordnungspläne erst allmählich und mühsam erarbeiten müssen.

  • Widerstand ist mehr als eine Haltung. Alle totalitären Regime produzieren Emigration, eine gegnerische Haltung kann auch in der „inneren Emigration“ gepflegt werden. Damit wir aber von Widerstand sprechen, müssen die beteiligten Personen auch aktiv werden. Die Aktivitäten sind entweder destruktiv (Sabotageakte, Attentat) oder konstruktiv (Aufbau von Alternativen).

  • Die Beweggründe, warum Menschen im Widerstand gegen die Diktatur aktiv wurden, waren so unterschiedlich wie ihre Möglichkeiten. So hatte ein Claus Schenk von Stauffenberg natürlich ganz andere Voraussetzungen ein Attentat auf Hitler durchzuführen als etwa der Arbeiter Georg Elser, der ein solches bereits 1938 alleine versucht hatte; bei Ersterem war vor allem die Not der Wehrmacht 1943 ausschlaggebend, bei Letzterem eher die Verschlechterung wirtschaftlichen Lebensbedingungen. In der Vielfalt der Beweggründe scheint mir für alle Widerstandsaktivitäten ein gewisser Altruismus bzw. ein Verantwortungsbewusstsein für die Gesellschaft kennzeichnend zu sein. Eine Person, der es in erster Linie um den eigenen Vorteil oder das Abwenden von persönlichen Nachteilen geht, würden wir wohl kaum zum Widerstand rechnen.

  • Die Entscheidung zum aktiven Widerstand verlangt Mut der einzelnen Beteiligten. Da Widerstand von Seiten der herrschenden, diktatorischen Systeme als Hoch- oder Landesverrat, staatsfeindliche Hetze etc. verstanden und entsprechend geahndet wurde, bedeutete die Beteiligung am Widerstand immer ein erhebliches persönliches Risiko, das bewusst in Kauf genommen wurde. Es ist nicht vergleichbar mit dem Risiko einer Verwarnung oder eines Bußgelds, das Impf- oder Maskengegner in der Coronapandemie tragen.

In den ersten Jahren der Stiftung Kreisau zog insbesondere Ludwig Mehlhorn, selbst widerständisch engagierter Protestant aus der DDR, die Parallele zwischen dem Kreisauer Kreis und den antikommunistischen Bürgerrechtsbewegungen in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Die von ihm mitkonzipierte Ausstellung „In der Wahrheit leben“ zeigt eine große Vielfalt der Formen von Widerstand, darunter Wallfahrten, Streiks, programmatische Texte wie die Charta 77, Helsinki-Gruppen, ökologisches, pädagogisches und kirchliches Engagement. Ludwig Mehlhorn hat anhand der Beispiele der Ausstellung versucht, eine systematische Charakterisierung von Widerstand zu erstellen. Dieser Text wurde jedoch erst im 2012 posthum erschienenen Ausstellungskatalog veröffentlicht.

Mehlhorns Perspektive liegt auf dem Widerstand, der in einer Gruppe oder einem Milieu eingebettet ist. Er beleuchtet sogar die grenzüberschreitenden Netzwerke. Im Blick auf isolierte einzelne Aktivisten besteht hingegen eine gewisse Unsicherheit oder Ratlosigkeit. Die spektakulären Selbstverbrennungen von Ryszard Siwiec 1968 in Warschau und Jan Palach 1969 in Prag kommen im Ausstellungskatalog nicht vor, obwohl ersterer in der Ausstellung gezeigt wird und letzterer in der tschechischen Erinnerungskultur eine herausragende Rolle spielt. Die Frage, inwieweit ein gemeinsames, in eine Gruppe oder Bewegung eingebettetes Handeln für Widerstand konstitutiv ist, verdient wohl eine eigene Betrachtung. Die Koautorin der Ausstellung Katarzyna Madoń-Mitzner verweist jedenfalls auf die Gefahr der „Sakralisierung“, wenn sich der Schwerpunkt der Betrachtung von den Aktivitäten zur „geistigen Schönheit“ der Personen im Widerstand verschiebt.

Eine letzte interessante Beobachtung: Widerstand lässt sich nicht in den Kategorien von „Erfolg“ beurteilen. Den Dissidenten Václav Havel, dessen Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ im deutschen Titel der Kreisauer Dauerausstellung zitiert wird, hat sein Widerstand zwar wiederholt ins Gefängnis, schließlich aber ins Amt des Staatspräsidenten geführt. Der Widerstand des Kreisauer Kreises schien zunächst auch ohne Erfolg. Blickt man aber aus einer heutigen Perspektive darauf zurück, so hatte er beispielsweise großen Einfluss auf die deutsch-polnische Verständigung, die Ausgestaltung der Versöhnungsmesse 1989 und die Entwicklung des Neuen Kreisau.

Oliver Engelhardt

 

Dr. Oliver Engelhardt ist ehemaliger Freiwilliger der Stiftung Kreisau, hat lange in den Gremien mitgewirkt und arbeitet heute für die evangelische Kirche in Wien.

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