Am 19. Februar 1922 wurde Władysław Bartoszewski geboren. Anlässlich seines 100. Geburtstag erinnern wir an diesen außerordentlichen Menschen. Professor Władysław Bartoszewski hat nicht nur einen bedeutenden Platz in der Gründungsgeschichte der Stiftung Kreisau eingenommen, sondern auch dazu beigetragen, dass die polnisch-deutsche Verständigung ein Kernelement ihrer Arbeit wurde. Er war Mitglied des Ehrenrats und viele Jahre Schirmherr des ProBono Programms der Stiftung.

Władysław Bartoszewski - Historiker, Politiker, Aktivist. Häftling im KZ Auschwitz, Soldat der Heimatarmee, Aktivist des Rates zur Unterstützung der Juden "Żegota", Teilnehmer am Warschauer Aufstand, sechs Jahre unter den Kommunisten inhaftiert, aktiv in der Solidarność. Zweimaliger Außenminister der Republik Polen, Senator, Staatssekretär in der Kanzlei des Premierministers der Republik Polen, Ritter des Ordens des Weißen Adlers und Träger des großen Bundesverdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

Anlässlich des 100. Geburtstages von Władysław Bartoszewski veröffentlichen wir ein Interviewauszug mit ihm aus der Publikation

"Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe von 1965 und seine Wirkung, hrsg. von Basil Kerski / Thomas Kycia / Robert Żurek, fibre Verlag 2006.

Die Wahrheit ist, dass alle Eliten, außer einzelnen Menschen, nicht reif genug waren, um die Wichtigkeit der Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern zu begreifen

Auszug aus dem Interview

Auschwitz, der Holocaust, die „Liquidierung“ des Warschauer Ghettos, der Warschauer Aufstand, die Zerstörung Warschaus – Sie waren Zeuge und Beteiligter an den tragischsten Ereignissen des Zweiten Weltkrieges. Wie ist es möglich, dass Sie, im Gegensatz zu vielen Ihrer Altersgenossen, die bis zu ihrem Lebensende den Hass auf die Deutschen nicht überwinden konnten, trotz allem zum Fürsprecher der Versöhnung wurden?

Vielleicht nicht trotz allem, sondern gerade deswegen. Als ich 19 war, trug ich die Last von Auschwitz mit mir herum. Und plötzlich erschienen mir meine Schulkameraden oder Kommilitonen wie eine Gruppe von Kindern. Deshalb suchte ich energisch den Kontakt mit Menschen, die wesentlich älter und klüger waren. Meine Vorgesetzten und Freunde während des Krieges und nach dem Krieg waren 8 bis 15 Jahre älter als ich. Manche von ihnen trugen Doktortitel, als ich erst Abitur hatte. Dadurch machte ich natürlich einen gewissen Sprung, denn ich wollte zu ihnen aufrücken, den Abstand verringern. In der Heimatarmee wurde ich dem Hauptquartier zugeteilt. Hunderte meiner Altersgenossen, die um vieles besser, klüger und mutiger waren als ich, kamen an die Front oder wurden in irgendeinen Winkel versetzt, und ich hatte das unwahrscheinliche Privileg, dass ich im Alter von 21 Jahren Zugang zur engeren Führung des gesamten unabhängigen Untergrundes hatte. Davon profitierte ich ungemein, ich bin damals um Jahrzehnte gereift. Später kam ich ins Gefängnis und verbrachte dort sechseinhalb Jahre mit Naziverbrechern und polnischen Kriminellen, aber auch mit führenden Politikern aller polnischen Parteien, mit Offizieren, Priestern, Staatsanwälten, Ärzten und Abgeordneten. Niemals hätte ich Hunderte solcher Leute im normalen Leben kennen gelernt. Und das war der nächste Sprung in meinem Leben. Mit 32 Jahren kam ich aus dem Gefängnis, aber was die Reife anging, fühlte ich mich fast schon wie im Rentenalter.

Solche Erlebnisse machen sicherlich menschlich reifer, müssen aber doch nicht dazu führen, dass man sich für die deutsch-polnische Versöhnung einsetzt!

Stimmt, aber diese Reife hat mir, nach allem, was geschehen war, sehr geholfen, einen nüchternen Blick auf die deutsch-polnischen Dinge zu bewahren. Wobei ich auch schon eine gewisse Vorbereitung vor dem Krieg erhalten hatte, dank Tadeusz Mikułowski, einem sehr guten Germanisten, der uns Wissen über die deutsche Kultur, Geschichte und Mentalität nahe zu bringen suchte. Das war ein sehr interessanter Mensch, er konnte den deutschen, den preußischen Staat nicht ertragen und liebte doch die deutsche Kultur, Kunst und Literatur. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich nach Krieg und Gefängnis nachzudenken begann: „Bleibt nichts übrig von alledem? Nur SA und SS? Das ist unmöglich. Wir sind von allen Informationen abgeschnitten, aber wenn Franzosen, Engländer und Amerikaner anfangen, sich mit den Deutschen zu einigen…“ Den Durchbruch verdanke ich dem Kreis um „Tygodnik Powszechny“ und Znak, aber auch Karol Wojtyła als Krakauer
Bischof und Erzbischof in den sechziger Jahren, der eine enorme visionäre Sensibilität für Bedürfnisse dieser Art besaß.(...)

„Die Wahrheit ist, dass alle Eliten, außer einzelnen Menschen, nicht reif genug waren, um die Wichtigkeit der Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern zu begreifen“.pdf

[Die Publikation ist weiterhin erhältlich auf der Seite des Verlags FIBRE]

 

Zuletzt besuchte Władysław Bartoszewski Kreisau am 20. November 2014 im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten anlässlich des 25. Jahrestages der Versöhnungsmesse, an denen auch Premierministerin Ewa Kopacz und Bundeskanzlerin Angela Merkel teilnahmen.

 

Rede von Prof. Władysław Bartoszewski im Bundestag, 28.04.1995

Die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung unterstützt die Stadt Breslau bei der Organisation der Feierlichkeiten zum 100. Jahrestages von Władysław Bartoszewski, die im April 2022 beginnen werden.

 

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