An der Grenze Polens zu Belarus spielen sich seit vielen Wochen dramatische Szenen ab. Wie in vielen Angelegenheiten ist die polnische Gesellschaft auch in dieser gespalten und polarisiert. Die einen sind empört über das rücksichtslose Vorgehen der polnischen Behörden und uniformierten Kräfte gegenüber den Flüchtlingen, die anderen verteidigen diese Maßnahmen, streiten deren Brutalität ab oder beharren darauf, dass nur eine harte Haltung die Eskalation des Problems durch das Regime von Alexander Lukaschenko und das Drama weiterer, immer zahlreicherer Gruppen von Flüchtenden aufhalten kann.
Wir sind uns über die Tatsache im Klaren, dass die Situation schwierig und kompliziert ist. Wir wissen, dass es keine einfachen Rezepte dafür gibt, die Grenzen wirkungsvoll zu schützen und den destruktiven Handlungen des belarussischen Regimes entgegen zu treten, ohne dabei schnell mit nationalem wie internationalem Recht und den Menschenrechten in Konflikt zu geraten. Wir leben in einer Welt schwieriger Entscheidungen. Was sollen wir also tun? Wie uns verhalten?
Antworten auf diese Frage wollen wir im Zeugnis historischer Persönlichkeiten suchen, die wir jungen Menschen aus Polen, Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern im Rahmen unserer Bildungsarbeit als Vorbilder näher bringen. Es sind dies Heldinnen und Helden der polnischen Widerstandsbewegung während des Zweiten Weltkriegs, Menschen wie Irena Sendler oder Witold Pilecki. Irena Sendler hat, dabei ständig ihr Leben riskierend, hunderte von Kindern aus dem Warschauer Ghetto gerettet. Witold Pilecki ist freiwillig als Gefangener in das Konzentrationslager Auschwitz gegangen, um Zeugnis über die Grausamkeit der deutschen Besatzer abzulegen und den polnischen Widerstand zu unterstützen. Beide haben – unter sehr extremen Bedingungen – Entscheidungen getroffen. Bei diesen Entscheidungen ging es darum, anderen Menschen das Leben zu retten unter Gefährdung der eigenen Sicherheit.
Antworten suchen wir auch im historischen Erbe Kreisaus. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs war hier eine Gruppe von Gegnern des Nationalsozialismus aktive, die man heute als Kreisauer Kreis kennt. Ihr Mitglied und Gründer Peter Graf Yorck von Wartenburg schrieb: „Handlungen, die ethisch nicht zu verantworten sind, können mit dem Staatsinteresse nicht entschuldigt werden”. Und der zweite Initiator der Gruppe, Helmuth James Graf von Moltke, fragte im Zusammenhang mit dem Leiden der Opfer des „Dritten Reichs“: „Darf ich denn das erfahren und trotzdem in meiner geheizten Wohnung am Tisch sitzen und Tee trinken? Mach‘ ich mich dadurch nicht mitschuldig? Was sage ich, wenn man mich fragt: und was hast Du während dieser Zeit getan?“ Beide haben für ihre Treue zu den eigenen Überzeugungen mit dem Leben zahlen müssen.
Wichtig ist uns schließlich auch das Erbe der Menschen, die sich der kommunistischen Diktatur widersetzten und sich gleichzeitig für die polnisch-deutsche Versöhnung eingesetzt haben. Es waren diese Menschen, die den Grundstein für unsere Stiftung gelegt haben. Eine dieser Personen war Władysław Bartoszewski. Zwei Aussagen von ihm sind es wert, hier in Erinnerung gerufen zu werden: „Wir gehören einem Kulturkreis an, dessen wichtigste ethische Konzepte vom Christentum geprägt sind. Das heißt, wir werfen keine alten Menschen vom Tarpejischen Felsen, wir respektieren Kinder”. Und sein wohl bekanntestes Zitat „Es lohnt sich, anständig zu sein, obwohl es sich nicht immer auszahlt. Es zahlt sich aus nicht anständig zu sein, aber es lohnt sich nicht”.
Das Zeugnis dieser Persönlichkeiten ist uns Vorbild und Wegweiser. Es lässt das Größte und Beste in uns zum Vorschein treten. Es fordert uns auf, den christlichen und humanistischen Werten treu zu bleiben. Daher schließen wir uns den Stimmen an, die zu einer unbedingten Beachtung von nationalem wie internationalem Recht und der Menschenrechte durch die polnischen Behörden und uniformierten Kräfte aufrufen. Wir solidarisieren uns mit all jenen, die Menschen in Not an der Grenze unmittelbare Hilfe bringen. Wir versichern, dass wir uns in unserer pädagogischen Arbeit weiterhin auf das Zeugnis der weiter oben genannten Persönlichkeiten berufen und auf die Tatsache hinweisen werden, dass der Prüfstein unserer Menschlichkeit unser Verhalten gegenüber dem Mitmenschen ist, insbesondere dann, wenn dieser Hilfe benötigt.
Der Vorstand der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung
Dorota Krajdocha, Dr. habil. Robert Żurek