Seit einigen Tagen wird Polen von einer Welle von Protesten erschüttert, die durch das Urteil des Verfassungsgerichtshofs über die Unvereinbarkeit der aktuellen Vorschriften zur Abtreibung mit der Verfassung ausgelöst wurde. Ausmaß und Charakter der Proteste, wie auch die Reaktionen der Personen und Milieus, die diesen negativ gegenüber stehen, weisen darauf hin, dass wir Zeuge einer Fortsetzung und einer Eskalation des Prozesses der Polarisierung unserer Gesellschaft werden, der bereits viele Jahre andauert und der in immer stärkerem Maße eine gute Zukunftsperspektive von uns allen bedroht. Die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, die sich für ein friedliches Zusammenleben von Nationen, sozialen Gruppen und einzelnen Menschen einsetzt, beobachtet diesen Prozeß mit wachsendem Kummer und wachsender Sorge.

Abtreibung ist ein sehr kontroverses Thema, das starke Emotionen hervorruft. Die modernen Demokratien haben noch kein Musterlösungen gefunden, die in zufriedenstellender Weise zugleich das Leben vom Moment der Empfängnis an schützen, wie auch das Recht der Frauen nicht als Objekte behandelt zu werden und über sich selbst zu bestimmen wahren. Gerade wegen des konfliktträchtigen, polarisierenden Potenzials der Auseinandersetzungen über die Abtreibung und auch der grundlegende Schwierigkeit bei der Ausarbeitung angemessener rechtlicher Lösungen, ist das Thema mit einem sehr großen Verantwortungsbewußtsein zu behandeln.

Optimale Lösungen schwieriger, Streit hervorrufender Fragen, müssen das Ergebnis von Dialog und Konsens sein. Das Forcieren kontroverser rechtlicher Lösungen im Widerspruch zu der Meinung eines bedeutenden Teils der Gesellschaft, darunter insbesondere sehr vieler Frauen, die diese Regeln betreffen werden, trägt nicht zur Erarbeitung von guten Regelungen, die Bestand haben, bei. Darüber hinaus sollte ein so schwieriges Thema wie Abtreibung nicht in einer Situation aufgegriffen werden, in der die Temperatur des politischen, wie des gesellschaftlichen Streits hoch ist und wir gleichzeitig mit der zweiten Welle einer Pandemie konfrontiert sind, die das Leben vieler Polinnen und Polen gefährdet. Und hinzu kommt, dass es schwierig ist, konfliktträchtige und komplizierte rechtliche Fragen zu entscheiden, wenn die Autorität des polnischen Gerichtswesens, einschließlich des Verfassungsgerichtshofs, aufgrund kontroverser Entscheidungen und politischen Streits in den letzten Jahren sehr gelitten hat.

Einige Menschen sind unangenehm berührt vom Charakter der aktuellen Proteste, von der sie begleitenden vulgären Sprache, den aggressiven Einstellungen und von den erhobenen Postulaten. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass eine vulgäre und von einem Mangel an Respekt gekennzeichnete Haltung schon seit einiger Zeit die politische Debatte dominiert. Die zunehmende Verrohung der Sprache, verbale Gewalt, das in Frage stellen der Vaterlandsliebe von Personen mit anderen politischen Ansichten und die Stigmatisierung ganzer gesellschaftlicher Gruppen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, sind in den letzten Jahren leider ein generelles Kennzeichen der politischen Landschaft in Polen geworden.

In dieser Situation wenden wir uns mit dem Appell an die Regierenden, dass sie beginnen mögen, mehr als bisher den Wert des Dialogs zu schätzen, des Kompromisses, des Aufbaus einer Gemeinschaft, auch mit dem Teil der Gesellschaft, in welchem sie ihre Wählerschaft nicht sehen. Nur auf diese Weise können wir unserer weltanschaulich so heterogenen Gesellschaft eine gute Zukunft sichern.

Wir appellieren auch an die Protestierenden, nicht der Logik der Polarisierung und des Konflikts zu folgen. In gewissen Situationen muss man die eigenen Überzeugungen in sehr entschiedener Weise verteidigen. Doch sollte das nicht zu einer solchen Radikalisierung  der Worte und Handlungen führen, die dauerhaft den Weg des Dialogs und der Verständigung versperrt.

Die Atmosphäre ist in Polen so aufgeheizt, dass ein Teil der Gesellschaft die Logik von Dialog und Kompromiß verwirft und die Forcierung der eigenen Ansichten vorzieht, dabei anders denkende marginalisierend. Dieser Versuchung dürfen wir aber nicht erliegen! Einen Dialog zu führen ist zuweilen sehr schwierig und ein Kompromiß führt in aller Regel bei niemandem zu voller Zufriedenheit aber die Alternative ist eine wachsende Polarisierung, das Eskalieren des Konflikts und die Erosion der gesellschaftlichen Bindungen. Und solche Entwicklungen sind für jede Gemeinschaft verhängnisvoll.

Wir sind uns darüber bewußt, dass Appelle nur eine sehr begrenzte Wirkung haben. Daher werden wir uns als Stiftung auf das konzentrieren, was wir selber tun können. Wir werden dabei dem Erbe Kreisaus treu bleiben, also einer Kultur des Dialogs, der Erarbeitung eines Konsenses und der Zusammenarbeit über Trennendes hinweg. In einer zunehmend polarisierten und zerstrittenen Umgebung wollen wir weiter ein Ort sein, an dem Unterschiedlichkeit und gegenseitiger Respekt Hand in Hand gehen. Und zu einer solchen Haltung möchten wir auch Sie alle, die sie diese Erklärung gelesen haben, aufrufen.

 

Der Vorstand der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung

Dorota Krajdocha, Dr. Robert Żurek

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