In dieser Woche möchten wir Ihnen einen Text von Stephan Bickhardt zur Lektüre vorschlagen. Stephan Bickhardt, der in der DDR in der demokratischen Opposition aktiv war, setzt sich in seinem Text mit den Idealen auseinander, die für die Mitglieder des Kreisauer Kreises in ihrer Arbeit an konkreten Teilen ihres Programmes bestimmend waren und fragt danach, wie man sich heute auf dieses Erbe berufen kann.

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(…) Es gehört zu den Merkmalen einer Diktatur, dass sie niemals ganz in der Lage sein wird, das freie Denken auszurotten. Es ist sogar möglich, dass ein Unrechtsstaat wie die DDR Anschluss sucht an Traditionen, die ihm im Grunde zuwiderlaufen. Im Union Verlag erschien unter den Augen der Zensur das Buch von Kurt Finker: „Graf Moltke und der Kreisauer Kreis“, herausgegeben in Berlin (Ost) im Jahr 1978. Dieses Buch erwarb ich als Theologiestudent und war zum ersten Mal konfrontiert mit dem Erbe des Kreisauer Kreises in der Lesart eines Historikers mit Einfärbung der kommunistischen Ideologie.

Aber sehr schnell begriff ich, dass die Einordnung und die Bewertung der Dokumente nicht diese selbst in den Schatten stellen konnten. Ich begriff, dass sich die Dokumente und Zitate der Kreisauer in diesem Buch weit erheben über die gegebene Interpretation. Dieses zu empfinden und zu durchdringen war ein wunderbarer Vorgang, der in einer Diktatur schon etwas Befreiendes liefert. Ähnlich ging es vielen jungen Leuten damals, die sich mit Texten aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, mit den Flugblättern der Weißen Rose, mit den Briefen Dietrich Bonhoeffers, mit den Gedichten Paul Celans und vielen anderen Quellen auseinandersetzten. Diese Texte aus dem Widerstand hatten eine aktuelle Dimension. Gerade weil sie keine Handlungsanleitung gegen die kommunistische Ideologie lieferten, waren sie im Blick auf die Freiheit des Geistes und das Ringen um Wahrhaftigkeit und Anstand von großer Bedeutung. Die Worte zogen in einen neuen Bannkreis, sie wirkten beispielgebend, ohne dass auch nur irgendjemand auf die Idee der Nachahmung im direkten Sinne kommen konnte.

S. Bickhardt - DAS ERBE DES KREISAUER KREISES FÜR DIE GEGENWART.pdf

*Stephan Bickhardt - evangelisch-lutherischer Pfarrer. Ein Vertreter der Bürgerrechtsbewegung in der DDR. Engagiert in der Aktion Sühnezeichen. Direktor der Evangelischen Akademie Meißen.

* Der Text wurde veröffentlicht in: Das (un)sichtbare Erbe. Gedanken über den Kreisauer Kreis, Tomasz Skonieczny (Hg.), Wrocław 2017.

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