Wir sind Augenzeugen einer außergewöhnlichen Erfahrung. Die globale Epidemie ließ uns nicht nur unser Leben verlangsamen, sondern schloss uns auch von alltäglichen Aktivitäten aus und zwang uns darüber hinaus dazu, über unsere Prioritäten nachzudenken und sie vielleicht neu zu definieren.

Es ist verständlich, dass wir Angst haben, vor allem davor, unsere Gesundheit und Arbeit zu verlieren. Das Virus der Angst verbreitet sich schneller als das Coronavirus, angeheizt durch die aufeinanderfolgenden Nachrichten in den Medien und die Unsicherheit, die es uns nicht erlaubt langfristig zu planen. Wir wissen nicht, wie lange die Epidemie dauern wird, es ist schwer, sich ihre Auswirkungen überhaupt vorzustellen. Wenn man darüber nachdenkt, verursacht es Ängste, Wut und manchmal sogar Aggression. Umso mehr sollten wir für solche Zustände sensibel sein, sie wahrnehmen und stoppen, bevor sie an Dynamik gewinnen. Die Unsicherheit ist das Schlimmste – wie lange wird es dauern?

Die erzwungene Isolation fördert die Eskalation von schlechten Emotionen und Ängsten; ich habe vor Kurzem bei einem Gottesdienst über Wände gesprochen, die jetzt mehr und mehr symbolische „vier Wände“ sind, die jeden Tag näher rücken und unser Gefühl von Freiheit und Handlungsspielraum einschränken. Nichtsdestotrotz heißt in einem Haus eingeschlossen zu sein nicht, dass man sich anderen gegenüber verschließen muss. Ich habe mit Zuversicht beobachtet, wie sich wunderbare Initiativen seit der Anerkennung der Epidemie vervielfacht haben: Zehntausende von Polen sind bereits in der Hilfskampagne „Sichtbare Hand“ („Widzialna Ręka“) und „Wir rufen zum Essen“ („Wzywamy posiłki“) aktiv, die das medizinische Personal mit Mahlzeiten versorgt, und an der zahlreiche Restaurants und Lebensmittelproduzenten teilnehmen; Spezialist_innen der Gruppe „Psycholog_innen für die Gesellschaft“ bieten kostenlose Therapie für Bedürftige an, breslauer Unternehmen teilen ihr Wissen...

Ich habe den Eindruck, je mehr Einschränkungen, desto mehr Möglichkeiten und Enthusiasmus. Es ist, als würde diese schwierige Zeit nur darauf warten, dass wir eine große Menge an Güte und Kooperationsbereitschaft freisetzen. Dieses Engagement kann ein perfektes Heilmittel gegen unsere Ängste sein. Jede/r von uns kann mithilfe seiner/ihrer eigenen Fähigkeiten etwas für die Anderen tun. Eine/r wird sich freiwillig engagieren, Eine/r tätigt die Einkäufe der Nachbar_innen oder geht mit dem Hund spazieren, ein/e Andere/r näht Masken für das Krankenhaus. Wir können mit einer Tat, einem Wort, einem warmen Gedanken helfen, wir können Menschen anrufen, die einsam SIND oder sich so fühlen, um sie zu beruhigen.

Die symbolischen „vier Wände“, sollten uns nicht einschränken und gleichbedeutend mit einer Abschottung sein. Im Gegenteil, indem sie uns ein Gefühl der Sicherheit und des Selbstbewusstseins vermitteln, sollten sie uns für die Welt, für andere Menschen sensibilisieren. Die vier Wände sollten ein Hafen sein, aus dem wir jederzeit hinaussegeln können, um Anderen zu helfen – dem/der Suchenden, dem/der Wartenden, dem/der Einsamen, dem/der Kranken, dem/der Unsicheren, dem/der Erschrockenen.

Die Wände, die uns einschränken, die auf uns eindrängen, sind in unseren Köpfen gebaut! Wir dürfen nicht zulassen, dass sie uns den Weg zu einem anderen Menschen versperren.

Manche sprechen von einer Atomisierung der Gesellschaft, von einer Lockerung oder gar Auflösung der sozialen Beziehungen, was aus unserem übermäßigen Individualismus, um nicht zu sagen aus der Egozentrik resultieren soll. Die gegenwärtige erzwungene Vereinzelung hat gezeigt, dass wir nicht eine Anhäufung unabhängiger Atome sind. Im Gegenteil, die Pandemie hat uns, manchmal sehr schmerzhaft, bewusst gemacht, wie sehr wir einander brauchen. Wir alle existieren in einem Netzwerk sozialer und wirtschaftlicher Verbindungen.

Es lohnt sich also, vom egoistischen, neurotischen „Ich“ in den solidarischen „Wir“-Modus zu wechseln. Zusammenarbeit, Hilfe, gegenseitige Freundlichkeit, Fürsorge für Andere sind jetzt Schlüsselbegriffe – das sind unsere Wegweiser. Man sagt, dass eine Vertrauenskultur die Grundlage der Zivilgesellschaft ist – wir haben jetzt die Chance zu zeigen, wie reif und verantwortungsbewusst wir sind. Es liegt nur an uns, welche Entscheidungen wir treffen.

Erinnern wir uns daran, wie oft wir gesagt haben, dass uns die Zeit fehlt – für uns selbst, für die Familie, für Freunde. Lassen wir uns die gegenwärtige Situation als ein Geschenk betrachten, als gegebene Zeit, in der wir uns Anderen gegenüber öffnen können. Mit dem/der Nächsten sprechen, kleine Dinge bemerken, nicht nur auf Aufgaben bezogen, sondern um auch präsenter zu sein. Es lohnt sich, einfache Fragen erneut zu stellen: Was ist wirklich wichtig für mich? Was kann ich aufgeben? Wenn ich noch ein Jahr zu leben hätte, wie würde ich es verbringen? Halten wir inne, um uns in die wahren Bedürfnisse, die bisher durch die tägliche Routine blockiert waren, zu vergegenwärtigen. Betrachten wir die gegenwärtige Zeit als ein Geschenk – wir sollen sie bewusst wahrnehmen und erleben, denn sie wurde uns gegeben.

Bischof Waldemar Pytel - Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung

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