Die aktuelle Krise wird die meisten Bereiche unseres Lebens betreffen. Auch die deutsch-polnischen Beziehungen werden beeinflusst. Es mag eine große Herausforderung für sie sein, aber wie jede Veränderung kann auch diese Krise in einigen Bereichen ein kreatives Element mit sich bringen. Es ist nicht die Zeit für Kaffeesatzleserei, was genau, wann und wie in den deutsch-polnischen Beziehungen aufgrund der Coronakrise geschehen wird. Es gibt zurzeit mehr Fragen als Antworten. Um aber in der Zukunft nach Lösungen für auftretende Probleme suchen zu können, können sie bereits heute benannt werden, auch wenn sie nur, absichtlich, wenig detailliert beschrieben werden.
Stärke in der Gemeinschaft oder Flucht in die Nationalismen?
Die durch das Coronavirus verursachte Krise hat einerseits die europäischen Nationalismen hervorgehoben – die Schließung innereuropäischer Grenzen, die gegenseitige Schuldzuweisung für zu verspätete gegenseitige Unterstützung und die mangelnde Koordinierung zwischen den EU-Mitgliedstaaten, insbesondere am Anfang der Krise – all dies wird in Erinnerung bleiben. Doch die Hilfe bei der Organisation der Rückkehr von Bürgern aus dem Ausland, die Aufnahme von Patienten aus Nachbarländern zur Behandlung in Krankenhäusern, Maskentransporte oder die Unterstützung von medizinischem Personal in den am stärksten betroffenen Ländern sind Zeichen der Solidarität. Die EU-Mitgliedstaaten hatten die Gelegenheit zu beobachten, was es heißt, ein so wichtiges Feld wie den Gesundheitsschutz den Nationalstaaten zu überlassen und wie die Arbeit der EU in Krisenzeiten in den Bereichen funktioniert, in denen die EU zuständig ist. Welche Schlussfolgerungen werden für die Zukunft daraus gezogen? Inwieweit werden diese Erfahrungen des schnellen Geldtransfers und der neuen Ausgaben die laufenden Verhandlungen über den künftigen mehrjährigen EU-Haushalt beeinflussen? Wird Deutschland bereit sein, mehr Geld in die EU-Kasse zu zahlen? Werden die Vorgehensweisen der EU-Institutionen schneller reformiert, um diese Entscheidungen effizienter treffen können? Und werden Warschau und Berlin bei Diskussionen zu diesen Themen auf einer Seite stehen?
Ein Nährboden für fake News – wie sehr wird sich die gegenseitige Wahrnehmung verändern?
Die Darstellung der Aktivitäten der Europäischen Union – oder vielmehr ihrer Mängel – ist wiederum ein perfektes Beispiel dafür, wie die virusbedingte Situation die Verbreitung falscher Informationen ermöglicht. Das Tempo der Ereignisse, der Mangel an detailliertem Wissen und die durch die Epidemie verursachte Angst waren für einen verlässlichen Journalismus nicht förderlich. Politiker nutzten diese Situation gerne, um ihr Image im Gegensatz zu den Maßnahmen anderer Länder oder der EU aufzupolieren, aber Trolle waren auch nicht untätig. Infolgedessen boten das falsche gegenseitige deutsch-polnische Bild und die Stereotype einen perfekten Nährboden für die Verbreitung in den Medien. Negative Bilder werden bleiben und Nationalismen, Ängste oder Ressentiments vertiefen. Wie sehr werden sie die deutsch-polnische Wahrnehmung verändern? Wie schnell wird das in Mitleidenschaft gezogene Vertrauen und Image einer anderen Gesellschaft in den Zustand vor der Epidemie zurückkehren? Und wie wird sich dies auf andere Bereiche der Beziehung auswirken?
Wirtschaft als die Basis der Beziehungen – das Ende des Aufwärtstrends?
Die Wirtschaftskrise in beiden Ländern ist eine offensichtliche Folge der gegenwärtigen Stagnation infolge der Epidemie. Die schlechtere ökonomische Situation in Deutschland, geringere Nachfrage, Produktionsunterbrechungen und Bankrott gehende Unternehmen werden die polnische Wirtschaft beeinträchtigen. Wie stark wird sich die Situation in der wirtschaftlichen Dimension der deutsch-polnischen Beziehungen verschlechtern? Wird die Verflechtung der polnischen und der deutschen Wirtschaft zu- oder abnehmen und in welchem Zeitraum? Inwieweit werden unterbrochene Lieferketten schnell und effizient wieder aufgebaut und inwieweit werden sie nicht mehr existieren? Wie viele Firmen, die bisher in diesen Beziehungen tätig waren, werden verschwinden? Wie viele Menschen, die deutsch-polnische Kontakte aufgebaut haben, werden ihren Arbeitsplatz verlieren und in ganz andere Gebiete gehen?
In erster Linie sind mittlere und kleine Unternehmen betroffen, die Grundlage der deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen. Wie wird sich dies auf den gegenseitigen Handel auswirken? Wird Polen auf der Liste der deutschen Handelspartner nach unten fallen?
Große Unternehmen – und es gibt viele deutsche Großunternehmen auf dem polnischen Markt – werden wiederum wahrscheinlich weniger investieren und möglicherweise weitere Entwicklungspläne in Polen aufgeben. Was bedeutet das für den polnischen Arbeitsmarkt? Wie viele polnischen Subunternehmer, Dienstleister und Kunden werden davon betroffen sein?
In den letzten Jahren haben polnische Unternehmen in Deutschland immer effektiver investiert und insolvente Unternehmen übernommen. Wird diese Tendenz gestoppt? Oder werden im Gegenteil manche die neue Situation auf dem Markt nutzen können, da die Zurückhaltung, deutsche Unternehmen in chinesische Hände zu geben, noch weiter zunehmen wird?
Polen in Deutschland – wie attraktiv werden Arbeit und Wohnen auf der anderen Seite der Oder bleiben?
Zu den Wirtschaftsbeziehungen gehören auch Tausende polnischer Arbeitnehmer, die regelmäßig nach Deutschland gereist und jetzt auf der polnischen Seite geblieben sind. Dies gilt sowohl für diejenigen, die täglich die Grenze überquerten – weil sie sich nicht der von der polnischen Regierung eingeführten zweiwöchigen Quarantäne unterwerfen wollten, als auch für diejenigen, die beschlossen haben, während der Epidemie zu ihren Familien nach Polen zurückzukehren. Es geht um Tausende polnischer Arbeitnehmer – Handwerker, Fachleute, Pflegekräfte und Putzfrauen, die vorübergehend auf der Westseite von Oder und Neiße blieben. In der deutschen Landwirtschaft mangelt es wiederum an Polen, die im Frühjahr in Deutschland als Erntehelfer arbeiten. Wie lange bleiben sie zu Hause in Polen? Wird die aktuelle Krise die Polen davon abhalten, Saisonarbeiten in Deutschland durchzuführen oder regelmäßig zu pendeln?
Neben diesen polnischen Arbeitskräften, die regelmäßig nach Deutschland reisen, lebt eine große Gruppe von Polen und Personen mit polnischen Migrationshintergrund in Deutschland. Über Nacht wurden ihre direkten Kontakte zu Familien und Freunden in Polen erheblich behindert. Bisher war das einfache Reisen zwischen den beiden Ländern für viele einer der wichtigsten Faktoren, für die Entscheidung, in der Bundesrepublik zu bleiben. Wird die Erfahrung der Krisenzeiten die Polen davon abhalten, ihren Aufenthalt fortzusetzen oder sich in Deutschland niederzulassen? Oder umgekehrt, werden die Maßnahmen des deutschen Staates im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Krise sie ermutigen, westlich von Oder und Neiße zu leben?
Grenzgebiet – wie lange wird die Grenze wieder teilen?
Eine der Gruppen, die täglich die Schließung der Grenze zwischen Polen und Deutschland spürt, ist die im Grenzland lebende Bevölkerung. Sie ist es gewöhnt, ihr Leben auf beiden Seiten von Oder und Neiße zu führen. Wird die Erfahrung der Abriegelung das Gefühl der deutsch-polnischen Grenzgemeinschaft stärken? Wie schnell wird sich das Leben im Grenzgebiet wieder normalisieren? Welche Lösungen sollten implementiert werden, damit in Zukunft ähnliche Situationen nicht so viele Schicksale in privater und beruflicher Hinsicht beeinflussen? Können sich die Grenzgemeinden im Falle einer echten Krise in dieser Region gegenseitig helfen und wie wird sich dies auf die künftige Zusammenarbeit auswirken? Inwieweit wird das Vertrauen in die zentralen Behörden in diesen Regionen noch weiter sinken und das bilaterale Gemeinschaftsgefühl zunehmen?
Weniger Kontakte – weniger Verständnis?
Deutsch-polnische Kontakte bilden sich nicht nur aus politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, sondern entstehen durch Tausende deutsch-polnische Projekte zwischen Städten, Gemeinden, Schulen, NGOs, Universitäten und Hunderten anderen zivilen und staatlichen Trägern. Derzeit sind persönliche Treffen nicht möglich. Es ist unklar, wann sie offiziell wieder möglich sein werden, aber auch wann die Teilnehmer beschließen, ihre gegenseitigen Besuche wieder fortzusetzen. Wird der Jugendaustausch in den gegenseitigen Beziehungen weiter eine Selbstverständlichkeit bleiben? Wie lange werden Begegnungsstätten leer stehen? Werden Konferenzen und Workshops werden dauerhaft via Internet stattfinden? Und werden solche Online-Treffen aufgrund technischer Herausforderungen hauptsächlich nur für Personen möglich sein, die eine gemeinsame Sprache sprechen? Was wird mit Hunderten von Koordinatoren, Moderatoren, Dolmetschern, Dozenten und Sprachanimateuren geschehen, die täglich deutsch-polnische Projekte ermöglicht haben? Werden sie dauerhaft in andere Branchen wechseln? Wie viele NGOs werden die Umsetzung deutsch-polnischer Projekte einstellen oder ihren Betrieb überhaupt schließen? Wie viele polnische Studierende werden sich nicht für Erasmus in Deutschland entscheiden, wie viele deutsche Studierende werden sich nicht der Herausforderung stellen, ein Semester in Polen zu verbringen? Und wie viele deutsche Freiwillige werden gemeinsame Gedenkstätten mit ihrem Engagement nicht mehr unterstützen?
Auch Touristen werden für eine längere Zeit ausbleiben. Wie viele Deutsche, die möglicherweise Polen besuchen und, wie Untersuchungen zeigen, die wunderschönen Landschaften und die Gastfreundschaft der polnischen Gastgeber schätzen würden, werden zu Hause bleiben? Oder vielleicht erweist sich eine Reise nach Polen als sicherer, weil es im Ausnahmefall einfacher ist, dann schnell nach Hause zurückzukehren? Und schließlich, wie viele deutsch-polnische Paare werden vor einer ernsten Herausforderung für ihre Beziehung stehen?
Neue Arbeitsmethoden – Chance oder Bedrohung?
Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Kulturzentren und Angestellte in Rathäusern stehen vor der Herausforderung, die Arbeitsmethoden zu verändern, wenn sie in den kommenden Monaten weiterhin deutsch-polnische Projekte umsetzen wollen. Für manche ist das kein Problem. Der Übergang zur Onlinearbeit, aber auch moderne Kommunikationsformen sind für sie sogar motivierend und ermöglichen gewünschte Reformen. Aber für viele ist es ein Problem, es fehlt an Mut, Ideen und Technik. Welche Veränderungen werden durch die neue Situation in der Art und Weise der Zusammenarbeit in den Projekten entstehen?? Wie wird sich dies auf das gegenseitige Verständnis von Polen und Deutschen und die Folgen der Zusammenarbeit auswirken? Wird der Kontakt im Internet ein ähnliches Vertrauen verschaffen wie eine Besprechung in der Realität? Werden dadurch die vielen deutsch-polnische Netze noch weiter wachsen, weil mehr Menschen Zugang zum Internet haben, oder werden umgekehrt viele Gruppen ausbleiben?
Auch hier stehen diejenigen, die deutsch-polnische Projekte finanzieren, vor einer Herausforderung. Wie schnell werden sie Regeln für die Förderung umgestalten? Wird sich ihre finanzielle Situation wegen der Krise stark ändern? Und was bedeutet es, dass für solche Aktivitäten weniger Geld zur Verfügung stehen wird? Wie wird sich dies auf die Entwicklung der gegenseitigen Beziehungen auf der gesellschaftlichen Ebene auswirken?
Es gibt viele Fragen. Die präsentierte Liste ist unvollständig, die Probleme sind sehr allgemein beschrieben, wahrscheinlich könnte jeder Leser zu dieser Liste viele Fragen und Sorgen hinzufügen. Sie zeigt aber schon jetzt Eines – wie reich das Netz der deutsch-polnischen Verbindungen ist. Und wie wertvoll es ist, sich um sie zu kümmern.
Dr. Agnieszka Łada ist die Stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrates der Stiftung Kreisau