30 Jahre Nachbarschaftsvertrag || Interview mit Hans Jörg Neumann, ab 2019 Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Breslau, Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung Kreisau
In diesem Jahr jährte sich zum 30. Mal die Unterzeichnung des Vertrages über gute Nachbarschaft zwischen Polen und Deutschland. Welche Bedeutung hatte dieses Abkommen Ihrer Meinung nach für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu diesem historischen Zeitpunkt?
Der Nachbarschaftsvertrag war gemeinsam mit dem Grenzvertrag von 1990 ein Meilenstein und Neuanfang in den deutsch-polnischen Beziehungen. Die Bundesrepublik Deutschland und Polen haben die bilateralen Beziehungen auf eine neue Grundlage gestellt. Durch die Anerkennung der Grenzlinie hat Deutschland Polen Sicherheit gegeben. Insbesondere ist hervorzuheben, dass Deutschland versprochen hat, Polen bei der Integration in die Europäische Union und in die NATO zu unterstützen. Das unterstrich das große deutsche Interesse, den Nachbarn Polen zu einem Partner und Freund zu machen. Deshalb ist dieser Nachbarschaftsvertrag ein sehr wichtiger Teil der aktuellen deutsch-polnischen Beziehungen.
30 Jahre sind vergangen. Wie beurteilen Sie die Auswirkungen des Vertrages aus der heutigen Perspektive? Inwieweit wurden seine Ziele erfüllt?
Die ersten Ziele, Polen in das europäische System und in die NATO einzuordnen, wurden sehr schnell erreicht. In diesem Geist wurde übrigens auch das Weimarer Dreieck gegründet, denn auch das sollte dazu beitragen, die Integration schnell voranzubringen. Auch das Ziel der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wurde inzwischen überzeugend erreicht. Polen ist mittlerweile, je nach Lesart, der viert bzw. fünft wichtigste Wirtschaftspartner für Deutschland. Für Polen ist Deutschland mit Abstand zum wichtigsten Wirtschaftspartner geworden. Mit ihren großen Investitionen haben besonders deutsche Firmen dazu beigetragen Polen zu einer starken Wirtschaft zu verhelfen. Polen wird schon lange nicht mehr – , wie Deutschland anfangs vorgeworfen – nur als verlängerte Werkbank gesehen. In Polen sind mittlerweile moderne und leistungsfähige Firmen mit hochqualifizierten polnischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgebaut worden, sodass besonders auf wirtschaftlichem Gebiet die Integration Polens in die europäischen Strukturen hervorragend gelungen ist.
Hervorzuheben sind auch die Beziehungen auf gesellschaftlicher Ebene. Wir haben zum Beispiel viele hundert Partnerschaften zwischen deutschen und polnischen Städten. Ich erlebe fast täglich wie gut auch die regionalen Partnerschaften in meinem Amtsbezirk zwischen Sachsen und Niederschlesien, Schlesien und Nordrhein-Westfalen, Oppeln und Rheinland-Pfalz, Großpolen und Hessen oder Lebuser Land und Brandenburg funktionieren. Es gibt wunderbare Schulpartnerschaften, Partnerschaften zwischen Feuerwehren, zwischen öffentlichen Einrichtungen oder privaten Vereinen. Das sind also ganz hervorragende Entwicklungen, die mit Sicherheit auf dem partnerschaftlichen Geist des Nachbarschaftsvertrags beruhen bzw. durch ihn gefördert wurden.
30 Jahre nach dem Vertrag befinden wir uns in einem völlig anderen historischen Kontext. Polen und Deutschland sind Teil der europäischen Gemeinschaft. Wie sehen Sie die Rolle der Stiftung Kreisau und der Internationalen Jugendbegegnungsstätte im heutigen Kontext?
Die Stiftung Kreisau ist meines Erachtens ein sehr beachtenswerter und wichtiger Stein in dem Bauwerk der Kooperation und fördert auf vielfältige Weise das gegenseitige Vertrauen. Kreisau hat sich wunderbar entwickelt. Die Stiftung wurde von Beginn an durch die Bundesregierung über das Auswärtige Amt und über das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend unterstützt. Diese Ministerien fördern mit teilweise erheblichen Beträgen sowohl das Anwesen als solches als auch die Programme der Stiftung. Auch die polnische Seite hat in der Vergangenheit materielle Leistungen erbracht und scheint grundsätzlich bereit auch künftig wieder Kreisau und seine Projekte regelmäßig zu fördern.
Während allerdings für Deutschland Kreisau auch ein wichtiger Ort des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus ist, steht für die polnischen Partner weit überwiegend der Versöhnungsaspekt zwischen beiden Völkern im Vordergrund.
Was mir sehr gut gefällt, ist die Tatsache, dass die Stiftung Kreisau durch verschiedene Aktivitäten auch in Polen immer bekannter wird. Ich denke da zum Beispiel an Krzyżowa-Music. Vor allem aber sind es die vielen Jugendbegegnungen, die dort stattfinden. Kreisau nimmt deshalb meines Erachtens einen wichtigen Platz im deutsch-polnischen Verhältnis ein. Besonders gut gefällt mir, dass sich das Programm nicht nur auf Deutschland und Polen beschränkt, sondern häufig Teilnehmer aus der Ukraine, aus Tschechien und anderen Ländern kommen, und Kreisau nicht nur bilateral, sondern auch international eine wichtige Rolle spielt. Die Bunderegierung und künftig wohl auch wieder verstärkt die polnische Regierung, werden sich erhebliche Mühe geben, dies zu fördern.
In welchen Bereichen ist die aktuelle deutsch-polnische Zusammenarbeit besonders erfolgreich?
Neben der bereits von mir genannten wirtschaftlichen Aspekte, ist vor allem Dingen der politische Dialog von Bedeutung. Unabhängig davon, dass wir durchaus in bestimmten Fragen unterschiedliche Positionen haben (beispielsweise in der Frage der Reparationen oder Nord-Stream 2) oder nicht immer die gleichen Ziele verfolgen (etwa wie Europäische Union in Zukunft aussehen soll), ist aber wichtig, dass wir mit den Entscheidungsträgern immer im konstruktiven Dialog bleiben.
Ein bleibender, ganz besonderer bilateraler Erfolg ist jedoch, dass die Menschen beider Staaten sich immer besser kennenlernen. Es ist mittlerweile absolute Normalität, dass Polen Deutschland besuchen oder dort sogar arbeiten. Wunderbar ist aber auch, dass über diejenigen hinaus, für die das heutige Polen einmal die Heimat war, immer mehr Deutsche Polen als Urlaubsland, nicht nur als Wirtschaftspartner entdecken. Wenn man den Nachbarn kennenlernt und mit ihm – statt über ihn – redet, wird man in der Regel auch ein gutes Verhältnis zu ihm haben.
Welche Ziele im Rahmen der deutsch-polnischen Nachbarschaft sollten in den nächsten Jahren zur Priorität werden?
Priorität sollte sicherlich weiterhin die Stärkung des Austausches der Gesellschaften sein. Die Bundesrepublik Deutschland wird daher weiter Städte- und Regionalpartnerschaften, einzelne Vereine, die Deutsche Minderheit in Polen als Brücke zwischen beiden Staaten, vor allem aber den Jugendaustausch zur Vertiefung der bilateralen Beziehungen fördern.
Und wir sollten meines Erachtens übrigens künftig das Weimarer Dreieck nicht nur beim bereits recht gut funktionierenden gesellschaftlichen Austausch, sondern auch im politischen Bereich stärker nutzen, denn Polen, Frankreich und Deutschland spielen als bevölkerungsstärkste Nationen innerhalb der Europäischen Union politisch und wirtschaftlich eine besonders bedeutende Rolle und können und sollten der Europäischen Union noch viele Impulse geben.
Als dritte Priorität sollten wir angesichts der Bedeutung der Sprache verstärkt Sprachunterricht fördern, damit mehr Polen Deutsch, aber natürlich auch mehr Deutsche Polnisch sprechen, was – wie ich bezüglich des Polnischen aus eigener Erfahrung weiß – wirklich nicht einfach ist.
Das Interview wurde von der Redaktion des Newsletters für die vorliegende Sonderausgabe anlässlich des Jahrestages des Nachbarschaftsvertrags durchgeführt.