Wenn ich heute, am 30. Jahrestag der Versöhnungsmesse in Kreisau auf dieses historische Ereignis der deutsch-polnischen Aussöhnung zurückblicke, so bin ich mehr und mehr der Überzeugung, dass es sich nicht durch diplomatisch-politische Faktoren erklären lässt. Auf dieses Ereignis treffen mit vollstem Recht die Worte Vaclav Havels zu, als er Papst Johannes Paul II, fünf Monate nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, im April 1990 in Prag begrüßte: »Ich weiß nicht, ob ich weiß, was ein Wunder ist. Trotzdem wage ich zu sagen, dass ich eben ein Wunder erlebe.«

Am Tag der deutsch-polnischen Versöhnungsmesse am 12. November 1989 in Anwesenheit des Bundeskanzlers der Bundesrepublik, Helmut Kohl, und von Premier Tadeusz Mazowiecki, waren seit dem Fall der Berliner Mauer gerade drei Tage vergangen. Die staatlichen Strukturen und der Machtapparat der DDR bestanden unverändert. An der Spitze des polnischen Staates stand immer noch ein Mann Moskaus. In beiden Ländern waren immer noch Sowjettruppen stationiert. Die weitere politische Entwicklung war unvorhersehbar und schloss auch ein militärisches Szenario nicht aus. In meiner Predigt sprach ich davon, wie schwierig dieser Besuch aus politischen Gründen sei, denn er beziehe sich doch auf die Nachbarn mitten im Herzen Europas. Und ich verwies darauf, dass die wahrhaft historische Dimension dieses Treffens darin liege, dass es sich im Kontext der liturgischen Feier vollziehe. Denn in der Liturgie vergegenwärtigt sich auf sakramentale Weise das Werk der Versöhnung des Menschen mit Gott, mit sich selbst und mit den anderen sowie mit der gesamten Schöpfung. Wenn die Wunden zu schmerzhaft, die Gräben zu tief sind, kann einzig die Vergebungsgnade unseres Erlösers und Versöhners das Wunder einer gerechten und beständigen Aussöhnung bewirken.

Die überpolitische Dimension einer Aussöhnung, die auf dem Vorbild und der Lehre Jesu Christi fußt, unterstrichen auch beide Staatsmänner in ihren kurzen Reden am Ende dieses Versöhnungsgottesdienstes. Tadeusz Mazowiecki sagte: »Ernst und brüderlich haben wir diese Heilige Messe miterlebt. Dieses Gefühl der zwischenmenschlichen Brüderlichkeit wollen wir von hier mitnehmen, damit wir niemals vergessen, dass wir vor allem Menschen und Brüder sind. Dieses Gefühl möge sich unter unseren Völkern und auch bei uns selbst entwickeln.« Und Bundeskanzler Kohl erwiderte: »Der Herr Ministerpräsident und ich haben gerade miteinander den Friedensgruß ausgetauscht. Dabei begleiteten uns die Worte: Der Herr segne Dich und er segne Dein Volk. Wir hätten kein Recht, das so auszusprechen, wenn dies nicht auch unsere Völker betreffen würde. Deshalb machen wir uns von diesem Altar aus auf den Weg und schreiten einer guten Zukunft unserer Völker entgegen, die erfüllt ist von Frieden und Gottes Segen, für Polen und Deutsche, und für uns alle in Europa.«

Beide Staatsmänner waren sich auch der großen Symbolik dieses Ortes bewusst. Im Gefolge der Versöhnungsmesse vereinbarten sie unter anderem die Gründung einer Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Kreisau, die das geistige Vermächtnis des Moltke-Kreises weitertragen sollte. Sie wurde am 11. Juni 1998 von Helmut Kohl im Beisein von Tadeusz Mazowiecki eröffnet. In seiner Eröffnungsansprache sagte Bundeskanzler Kohl: »Am 12. November 1989 feierte an dieser Stelle Bischof Nossol eine Versöhnungsmesse. Herr Mazowiecki und ich tauschten dabei den Friedensgruß aus. Das war nicht irgendeine formale Geste. Das hatte etwas zu tun mit unserem Leben, mit unseren Erfahrungen, mit unseren Visionen, mit unserer Zukunft. Wir machten uns in jenen Tagen auf den Weg, um für Deutsche und Polen, Polen und Deutsche, ein neues Kapitel unserer Beziehungen aufzuschlagen.« Und er zitierte Helmuth James von Moltke, der 1942 geschrieben hatte: »Die eigentliche Frage, vor die Europa nach dem Krieg gestellt wird, ist die, wie das Bild des Menschen im Herzen unserer Mitbürger wieder hergestellt werden kann. Dies aber ist eine Frage der Religion und der Erziehung...«

Bei der Eröffnungsfeier der Jugendbegegnungsstätte war auch die Ehefrau des Grafen Helmuth James von Moltke, Gräfin Freya von Moltke, zugegen. Sie hatte ihren Mann nicht nur in der Überzeugung bestärkt, während der Geheimtreffen in Kreisau und Berlin an einer neuen Ordnung für Deutschland und Europa nach dem Fall des Nazi-Regimes zu arbeiten. Sie hatte auch aktiv an den Sitzungen des >Kreisauer Kreises< teilgenommen und rettete nach Kriegsende das Vermächtnis ihres Mannes: Die Grundsatzerklärungen der Widerstandsgruppe und die Briefe ihres Mannes, die Gefängnispfarrer Pastor Harald Poelchau unter Lebensgefahr den Eheleuten übermittelte. Die Briefe, die sie selbst ihrem Mann in der Zeit seines Hochverratsprozesses und der viermonatigen Inhaftierung vor seiner Hinrichtung am 23. Januar 1945 geschrieben hatte, durften erst 2011, ein Jahr nach Freya von Moltkes Tod, veröffentlicht werden. Sie erschienen 2017 auch auf Polnisch.

Die Briefe spiegeln die berührende Hingabe zweier liebender Ehegatten wider und werden zugleich mit der Zeit immer mehr zu Glaubenszeugnissen. Kurz vor Prozessbeginn schreibt Freya von Moltke: »Mein Liebster. Dein bin ich für Leben und Tod. Du weißt es. Dich liebe ich mit all meinen Kräften. Dir bin ich von Gott zugehörig geschaffen. Darum darf ich mit Dir gehen auf allen Deinen Wegen und Du auf meinen.« Und weiter: »Ich bitte Gott, dass er Dir Kraft und Stärke und Ruhe, Moltkesche Ruhe, geben wird. Außer dem Leben können sie Dir ja nichts nehmen!«

Selbst als die Hinrichtung von Moltkes sicher ist und jeder Brief der letzte sein kann, steht die Korrespondenz der Eheleute nicht im Schatten des Todes. Es gelingt ihnen, wie ihr Sohn, Helmuth Caspar von Moltke schreibt, »durch die Mauern des Gefängnisses Tegel hindurch miteinander einen enorm nahen, intimen, liebevollen und doch freudigen Dialog zu führen«. Zu einem großen Teil ist dies der Verdienst Freya von Moltkes. »In allem waren wir getragen von unserem Glauben, Glaube, der kam wie Ebbe und Flut« wird sie später sagen.

Beiden Eheleuten, obwohl traditionell im protestantischen Glauben erzogen, war weltliches, sozialdemokratisches Gedankengut zunächst näher gewesen als die Religion. Ihre Hinwendung zum Glauben erklärte Freya von Moltke später mit der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Tod: »Wenn man von Angesicht zu Angesicht mit dem Tod lebt, dann reichen liberale Ideen einfach nicht mehr aus.«

Wie ihr Mann begreift auch Freya von Moltke mit der Zeit die schrecklichen Wochen der Trennung und die Todesnähe zugleich als die höchste Erfüllung ihres gemeinsamen Lebens: »Ich bin voll tiefster Dankbarkeit für den Inhalt dieser letzten Wochen. Ja, wir sind sehr beschenkt worden, sehr reich und sehr wunderbar, und dass wir es zusammen geschenkt bekommen haben, bedeutet solch ein Glück. Gott gebe, dass wir die Kraft finden, weiter zu sagen, >Dein Wille geschehen« Beide sind der unerschütterlichen Überzeugung, in Gott geborgen zu sein und in ihm für immer vereint zu bleiben, auch im Tod. »Wir sind eins und bleiben eins«, schreibt Freya von Moltke, »wir waren glücklich, wir sind glücklich und wir bleiben glücklich. Wir sind zusammen dankbar und zusammen aufgehoben und wir bleiben zusammen, und kein Tod kann uns trennen. Ich billige alles, was Du tatest, aus Herzensgrund.« Beide sind der Überzeugung, dass Helmuth James für eine gerechte Sache in den Tod geht: »Dein Leben erscheint mir schön und vollendet. Du stirbst für etwas, für das es sich zu sterben lohnt« schreibt Freya von Moltke im September 1944.

Helmuth James von Moltke wurde hingerichtet, weil er die Stimme seines Gewissens nicht abtöten wollte. Er starb in Verteidigung von Menschlichkeit und Rechtschaffenheit. Und weil er zu der zur Überzeugung gelangt war, dass die Grundlage der künftigen deutschen, und in weiterer Sicht einer europäischen, Identität die christlich­-humanistische Tradition bilden müsse. In seiner Denkschrift „Über die Grundlagen der Staatslehre“ schreibt er: »Eine glaubenslose Masse kann jeder Staatsmann bestechen, eine Schicht gläubiger Menschen jedoch nicht. Der Staat bedarf des Glaubens: Zur Ausbildung des rechten Staatsmannes, zur Erziehung des Staatsbürgers zur Erkenntnis der natürlichen Ordnung und zur Erhaltung einer wirklichen Kritik an den Handlungen der Organe des Staates.«

In geradezu visionärer Weise entwarf der >Kreisauer Kreis< ein demokratisch und europäisch gesinntes Deutschland, in dem, ähnlich wie in der Widerstandsgruppe selbst, Menschen verschiedener sozialer, politischer und konfessioneller Herkunft Platz fanden. Die Keimzelle dieses neuen Europa sollte das christliche Gewissen bilden. Helmuth James und Freya von Moltke waren bereit, für diese Überzeugung das höchste Opfer zu bringen. Leben, das wird in ihren Briefen mehr als deutlich, ist mehr ist als nur das Überleben. Viel mehr als das zählen die Würde, die Freiheit, das Gewissen, der Glaube. Helmuth James von Moltke sagt vor dem Volksgerichtshof: »Ich stehe hier nicht als Protestant, nicht als Großgrundbesitzer, nicht als Adliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher, sondern als Christ und als gar nichts anderes«.

Als Christen waren beide auch der tiefen Überzeugung, dass, wie Helmuth James von Moltke formulierte, die Seele des deutschen Volkes nur geheilt werden könne, wenn es bereit sei, christliche Wiedergutmachung und Versöhnung zu leisten. Wie ihr Mann gehörte aus diesem Grund auch Freya von Moltke zu den Vorreitern der deutsch­polnischen Aussöhnung. Sie sah Kreisau zeitlebens als einen Ort der deutsch-polnischen Verständigung. Zu Beginn der 1990er Jahre sagte sie: »Wie gut, dass Kreisau heute polnisch ist. Das macht es von vornherein zu einem europäischen Ort.« Sie unterstützte tatkräftig die polnische Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung und gründete noch im Alter von 93 Jahren die Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau in Berlin, der heute ihr Sohn Helmuth Caspar vorsteht.

Kreisau ist heute Synonym für eine Begegnungsstätte, in der Jugendliche aus ganz Europa für eine offene und menschenwürdige Gesellschaft jenseits von Vorurteilen und nationalstaatlicher Einengung arbeiten. Dieser Ort trägt das Vermächtnis Helmuth James und Freya von Moltkes in die Zukunft, ein Vermächtnis, dem das unbeirrbare christliche Lebenszeugnis beider Ehegatten unangefochtene Authentizität verleiht.

Gemäß dem Wort des Johannesevangeliums »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht« hatte sich Helmuth James von Moltke vor seinem Tod als Sämann verstand, wie er es ausdrückte, als einer, der die Saat für eine neue Zeit ausbrachte. In einem Kassiber aus der Todeszelle schrieb er dem Jesuiten Alfred Delp, der als Mitglied des >Kreisauer-Kreises< ebenfalls hingerichtet wurde: »Denn wir wollen, wenn man uns schon umbringt, auf alle Fälle reichlich Samen streuen.« Dank Freya von Moltke und ihren beiden Söhnen Konrad und Helmuth Caspar von Moltke trägt diese Saat reiche Frucht

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