Am 17. Juni 1991 wurde der „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ zwischen Deutschland und Polen unterzeichnet. Darin äußerten die beiden Vertragsparteien ihre Überzeugung „von der Notwendigkeit, die Trennung Europas endgültig zu überwinden und eine gerechte und dauerhafte europäische Friedensordnung zu schaffen“, des Weiteren verpflichteten sie sich, „den Wunsch ihrer beiden Völker nach dauerhafter Verständigung und Versöhnung in die Tat umzusetzen“.

Der Vertrag über die Versöhnung

Im Vertrag ist insgesamt achtmal von Versöhnung die Rede. Versöhnung wird dabei mit unterschiedlichen Aspekten der deutsch-polnischen Beziehungen in Verbindung gebracht. Der Vertrag postuliert vielfältige Kooperationsformen zwischen den beiden Völkern, um die Versöhnung zu fördern und deren Nachhaltigkeit zu gewährleisten, hierzu gehören u.a. gemeinsame Verantwortung der Deutschen und Polen für den Frieden in Europa, regionale Zusammenarbeit, Kooperationen in so unterschiedlichen Bereichen wie Wirtschaft, kultureller Austausch oder Förderung zwischenmenschlicher Kontakte zwischen Deutschen und Polen, wobei dem Jugendaustausch eine besondere Rolle zukommt.

Was bedeutet aber „Versöhnung“ in Bezug auf Aufarbeitung politischer Konflikte? Dies ist eine äußerst schwierige Frage. Die Beteiligten des deutsch-polnischen Versöhnungsprozesses unternahmen selten den Versuch einer Definition. Sie beschäftigte vielmehr die Frage, was man konkret tun kann und soll, um Versöhnung zu erreichen. Ihnen standen auch keine fertigen Lösungen zur Verfügung. Sie mussten die vielfältigen Facetten von Versöhnung erst in einem learning by doing-Prozess langsam entdecken bzw. erarbeiten. Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen kann man rückblickend eine besondere Dynamik der deutsch-polnischen Versöhnung erfassen, die in den folgenden neun Thesen beschrieben wird.
 

Neun Thesen: Was ist Versöhnung?

1. Versöhnung zwischen den einst verfeindeten Völkern ist immer ein langer und mühsamer Prozess, der keineswegs geradlinig verläuft – Hindernisse und Rückschläge gehören genauso dazu wie Fortschritte in der gegenseitigen Annäherung. So entfaltet sich auch die deutsch-polnische Versöhnung.

2. Für eine nachhaltige Versöhnung reichen selten spontane Aktionen aus. Versöhnung erfordert von den Beteiligten vielmehr eine systematische Reflexion ihrer eigenen Handlungsgrundlage im jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Kontext. An den Initiativen zur deutsch-polnischen Versöhnung waren viele Intellektuelle und Publizisten beteiligt, die über Ursachen des deutsch-polnischen Konflikts, mögliche Formen eines friedlichen Verhältnisses zwischen den beiden Völkern sowie konkrete Handlungsformen in der Politik und in der Öffentlichkeit nachdachten und ihre Gedanken in Büchern, journalistischen Texten oder Memoranda verbreiteten.

3. Neben der Reflexion über die jeweils aktuelle Situation setzt Versöhnung auch fundiertes Wissen über die leidvolle Vergangenheit und über den Anderen voraus. Darum verbanden sich die Versöhnungsinitiativen im deutsch-polnischen Kontext auch mit konkreter Bildungsarbeit.

4. Das Wissen über das Geschehene und das gegenseitige Kennenlernen sind jedoch erst Eingangsvoraussetzungen für Versöhnung, denn Versöhnung ereignet sich vor allem in persönlicher Begegnung.

5. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Sprachen, Erfahrungen, Mentalitäten von Deutschen und Polen wird eins deutlich: Versöhnung braucht Übersetzung (nicht nur sprachlich, sondern auch als kulturelle Vermittlung), damit sich die beteiligten Parteien gegenseitig verstehen, verständigen und – im Idealfall – in die Lage des Anderen hineinversetzen können.

6. Dieses Sich-Hineinversetzen in die Lage des Anderen, das Erkennen seiner Empfindlichkeiten und Bedürfnisse, führt zu konkreten Versöhnungshandlungen. Im deutsch-polnischen Kontext kann man zwischen drei hauptsächlichen Arten solcher Handlungen unterscheiden: Gesten, die die Versöhnungsbereitschaft bekunden; Handlungen zur Wiedergutmachung des geschehenen Unrechts; Historisierung des Versöhnungsprozesses durch das Begehen der Jahrestage von Ereignissen, die als Meilensteine der Versöhnung gelten, um das bislang auf dem Weg der Versöhnung Erreichte symbolisch zu besiegeln und als Verpflichtung für die Zukunft zu bestätigen. 

7. Die Politik kann durch christlich motivierte Versöhnungsinitiativen positiv beeinflusst werden – so war es auch im Fall der deutsch-polnischen Annäherung.

8. Eine der größten Herausforderungen von Versöhnung ist es, ihre Aktualität und Relevanz den Generationen ohne eigene Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen zu vermitteln. Versöhnung ist also kein Zustand, der ein für alle Mal erreicht werden kann, sondern sie wird in ihrer generationenübergreifenden Dimension zu einer immerwährenden Aufgabe und Verantwortung für die Zukunft.

9. Schließlich besitzt die deutsch-polnische Versöhnung eine allgemeineuropäische Relevanz über den bilateralen Kontext der deutsch-polnischen Beziehungen hinaus. Man darf nicht vergessen, dass zwei Weltkriege zunächst als lokale Konflikte begannen. Daher dient jede Handlung, die lokale Konflikte verhindert oder aufarbeitet, auch dem restlichen Europa. Aus dieser Haltung heraus arbeitet die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung und bringt die in der deutsch-polnischen Versöhnung wurzelnden Erfahrungen in andere internationale Kontexte ein.

 

Was lernen wir aus der deutsch-polnischen Versöhnung?

Die Erfahrungen der deutsch-polnischen Versöhnung zeigen, dass Versöhnung auf vielen Akteuren aus Kirche, Politik, Gesellschaft basiert und von diversen Faktoren abhängt. Es ist diese Multidimensionalität, die in längerer Zeitperspektive einen Erfolg von Versöhnung verspricht – auch bei den zeitweise auftretenden Spannungen in den bilateralen Beziehungen. Die deutsch-polnische Versöhnung scheint gerade deswegen beständig zu sein, weil sie so vielfältig und dynamisch ist.

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Dr. Urszula Pękala, Theologin und Kirchenhistorikerin, Stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte bei der Stiftung Kreisau, erforscht seit mehreren Jahren die deutsch-polnische Versöhnung in ihrer politischen, religiösen und gesellschaftlichen Dimension. Der vorliegende Text basiert auf den Ergebnissen dieser Forschungen. Mehr zu diesem Thema bspw. in: Urszula Pękala, Irene Dingel, Ringen um Versöhnung. Religion und Politik im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen seit 1945 (VIEG Beihefte 116), Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2018.

 

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