Am 17. Juni 1991 unterzeichneten Deutschland und Polen den Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Er war das dritte Element eines Dreiklangs, der zum Fundament für eine neue Qualität der deutsch-polnischen Beziehungen wurde: Die Versöhnungsmesse in Kreisau eröffnete neue Möglichkeiten des Dialogs, der Grenzvertrag von 1990 regelte endgültig die territorialen Fragen, der Nachbarschaftsvertrag schuf beständige Grundlagen der politischen, wirtschaftlichen, sozialen, wissenschaftlichen und kulturellen Annäherung. Es war von zentraler Bedeutung, dass der Vertrag die bilateralen Beziehungen in einen europäischen Kontext einbettete – sowohl die polnischen Bestrebungen zur Integration in die Europäische Union als auch die Bedeutung der deutsch-polnischen Partnerschaft für die Entwicklung eines vereinten Europa wurden hier berücksichtigt.

Kreisau. Vor dem Vertrag

Der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, der die deutsch-polnische Verständigung so beflügelt und beschleunigt hat, hätte nicht so schnell ausgehandelt und unterzeichnet werden können, wenn ihm nicht am 12. November 1989 die Versöhnungsmesse in Kreisau vorausgegangen wäre. Bei der Versöhnungsmesse reichten sich der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Polens, Tadeusz Mazowiecki, und der Kanzler eines den Weg zur Wiedervereinigung betretenden Deutschlands, Helmut Kohl, den Friedensgruß und verliehen damit dem deutsch-polnischen politischen Dialog eine neue Qualität. Ihre symbolische Friedensgeste während eines christlichen Gottesdienstes war Ausdruck ihrer Überzeugung, dass das tiefe Misstrauen, das Deutsche und Pol*innen trennt, nicht allein durch politische Verhandlungen überwunden werden kann und dass die gegenseitigen Beziehungen nicht nur unter dem Aspekt politischer Interessen betrachtet werden dürfen.

Kreisau ist ein Ort, der den Widerstand gegen Nationalismus und Rechtlosigkeit, den Dialog über Trennungen hinweg sowie die Sehnsucht nach einem freien, demokratischen und geeinten Europa symbolisiert. Es ist kein Zufall, dass sich die beiden Politiker entschlossen haben, gerade hier ein klares Zeichen zu setzen: Dass sie nach Jahrzehnten der Feindschaft, in einer Zeit entscheidender Veränderungen in Mitteleuropa, trotz vieler Unterschiede und Widrigkeiten, gemeinsam eine wertebasierte, partnerschaftliche und freundschaftliche Nachbarschaft aufbauen wollen; dass sie das bilaterale deutsch-polnische Verhältnis im europäischen Kontext verorten; dass laut ihrer Überzeugung die Qualität der europäischen Integration und der Zusammenarbeit zwischen den beiden Teilen des bisher geteilten Europas von der Qualität des deutsch-polnischen Dialogs abhängt.

Der Vertrag und die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Kreisau

Der Vertrag besitzt für unsere Stiftung eine besondere Relevanz. Auf seiner Grundlage wurde das Deutsch-Polnische Jugendwerk gegründet, das zur Entwicklung der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Kreisau – eines der größten Zentren seiner Art in Europa – beigetragen hat. In den letzten 30 Jahren wurden dort tausende von Bildungsprojekten mit zehntausenden von jungen Europäer*innen, hauptsächlich Deutschen und Pol*innen, erfolgreich durchgeführt.

In Kreisau, aber auch in Oświęcim und an vielen anderen Orten, die Jugendbegegnungen organisieren, fangen junge Menschen an, das jeweilige Nachbarland ohne Vorurteile und Stereotypen wahrzunehmen, sie entdecken die bisher unbekannte Geschichte und Kultur der Nachbarn, lernen Dialog, Solidarität, Respekt vor der Vielfalt. Bei vielen Deutschen und Pol*innen, die sich für den Aufbau guter bilateraler Beziehungen im vereinten Europa engagieren, erwachte das Interesse am Nachbarland während deutsch-polnischer Jugendbegegnungen; mitunter entwickelt sich dieses Interesse dann zu einer lebenslangen Leidenschaft. Diesen Menschen ist es auch zu verdanken, dass der "Fatalismus der Feindschaft" (Stanisław Stomma), der die deutsch-polnischen Beziehungen in der Vergangenheit bestimmte, unsere gemeinsame, gute Zukunft immer weniger gefährdet.

Deutschland und Polen in Europa

In den vergangenen 30 Jahren haben unsere Gesellschaften viel erreicht, gleichzeitig haben sie sich selbst stark verändert. Deutschland hat sich vereinigt und als Grundpfeiler der europäischen Integration etabliert. Polen hat die zivilisatorische Rückständigkeit, die aus der kommunistischen Unterjochung resultierte, durch die Mitgliedschaft in der NATO und der Europäischen Union wettgemacht. Dies wäre ohne eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern nicht möglich gewesen. Ihr gemeinsamer Erfolg war den enormen Anstrengungen der politischen Elite und vieler Vertreter*innen der Zivilgesellschaft zu verdanken. Wir würdigen sowohl die Bemühungen all dieser Menschen als auch deren reale historische Auswirkungen.

Trotz der Fortschritte waren die deutsch-polnischen Beziehungen in den letzten Jahrzehnten nicht frei von Spannungen. Diese Spannungen resultierten zumeist daraus, dass Projekte in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Erinnerungskultur ohne ausreichende Berücksichtigung der Bedürfnisse des Nachbarn umgesetzt wurden. Allzu oft entpuppte sich "Versöhnung" eher als rhetorische Figur denn als Grundlage der Beziehungen und "Annäherung" eher als politische Taktik denn als Strategie zur Förderung echter Nähe.

Eine kritische Bewertung der Entwicklung der polnisch-deutschen Beziehungen sollte uns jedoch nicht in den Zustand der Abkühlung oder des Misstrauens zurückwerfen, sondern zum vertieften Dialog und einem noch intensiveren Handeln im Sinne einer echten Partnerschaft, Solidarität und Gemeinschaft von Deutschen und Pol*innen im vereinten Europa bewegen. Denn wir müssen bedenken, dass die Alternative in der Rückkehr zu Animositäten und Konflikten zwischen unseren Völkern besteht; angesichts der Probleme, denen sich die Menschheit in den kommenden Jahrzehnten stellen muss, im Schatten mächtiger Staaten, die ihre imperialen Pläne nicht aufgegeben haben, könnte diese Alternative für Deutsche und Pol*innen eine Tragödie bedeuten.

Kann der Vertrag immer noch eine Inspiration sein?

Heute, 32 Jahre nach der Versöhnungsmesse und 30 Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, müssen wir zu derselben Denkweise über die deutsch-polnischen Beziehungen zurückkehren, welche die Teilnehmer der Versöhnungsmesse in Kreisau und später die Verfasser und Unterzeichner des Vertrages präsentierten. Die Welt veränderte sich damals grundlegend. Die freiheitliche Auflehnung in Polen, später auch in der DDR und anderen Ländern Mitteleuropas, schuf Chancen, aber auch Bedrohungen, wie man sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte. Die damaligen polnischen und deutschen politischen Eliten fanden eine adäquate Antwort auf diese Situation: Dialog, Verständigung, Zusammenarbeit, Solidarität, europäische Integration – trotz aller, zum Teil enormer Schwierigkeiten. Dieser klugen Antwort verdanken wir den seit Jahrzehnten bestehenden Frieden zwischen unseren beiden Völkern und die Entwicklung unserer Nachbarschaft.

Heute beschleunigt sich der Lauf der Geschichte erneut. Die Klimakrise, die Digitalisierung, die Entwicklung der Biotechnologie oder die Pandemie stellen große Bedrohungen dar, schaffen aber auch Chancen für neue Lösungen, damit die Welt besser und sicherer wird. Die Herausforderungen von heute – ähnlich, wie diejenigen von vor 30 Jahren –, erfordern eine angemessene Antwort. Wir glauben, dass diese Antwort auch heute, trotz aller, manchmal enormer Schwierigkeiten, in Dialog, Zusammenarbeit und Solidarität besteht. Wir werden nicht in der Lage sein, den heutigen Bedrohungen und Herausforderungen zu begegnen, wenn wir aneinander vorbei oder sogar gegeneinander handeln.

Kreisau. Wir bauen eine vielfältige, verantwortungsvolle Zivilgesellschaft auf

Die Stiftung Kreisau für europäische Verständigung ist ein Werk der Zivilgesellschaft und sie kümmert sich um die gesellschaftliche Dimension der deutsch-polnischen Beziehungen; diese Beziehungen betrachtet sie im Kontext der europäischen Verständigung und des zivilgesellschaftlichen Engagements, der Kultur der Demokratie und der Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg. Die Stiftung handelt im Geist der Offenheit und gesellschaftlicher Inklusion.

Die Stiftung ist sich der Tatsache bewusst, dass gesellschaftliche Initiativen „von unten“ der Politik einen Raum für konstruktives Handeln schaffen, sie inspirieren und teilweise – wie der deutsch-polnische Versöhnungsprozess vor 1989 deutlich gezeigt hat – sogar konkrete politische Schritte erzwingen.

Wir werden nicht aufhören, uns dafür einzusetzen, dass die kommenden Generationen von Deutschen und Pol*innen das jeweilige Nachbarland besser verstehen und für eine gute gemeinsame Zukunft sorgen. Wir freuen uns, dass wir auf diesem Weg vielen Gleichgesinnten begegnen.

Präsidien von Stiftungsrat und Aufsichtsrat sowie der Vorstand der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung
Prof. Dr. Waldemar Czachur, Ole Jantschek, Dr. Benedict Schneiders, Dr. Agnieszka Łada, Dorota Krajdocha, Dr. habil. Robert Żurek

 

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