Liebe Schwestern und Brüder in Christus!

Sehr geehrte Damen und Herren,

statt Versöhnung herrscht Wut. Trauer und Beleidigung. Vorwürfe und Angst. Eine Seite gegen die andere, Bruder gegen Bruder und Stamm gegen Stamm. Auf der einen Seite ein Gefühl von Verletzung und Verlust von etwas, das einem zusteht. Auf der anderen Seite Angst, schlechtes Gewissen und die schlafraubende Frage: Wird er mir jemals vergeben? Werden unsere Beziehungen jemals wieder auf den richtigen Pfad zurückkehren? Kann es nach dem Leid, das ich angerichtet habe, zwischen uns wieder gut werden?

Die Geschichte kann nicht zurück gedreht werden. Das ist sicher. Der Weg, den unsere Beine gegangen sind, liegt immer hinter unserem Rücken, mit allem, was uns unterwegs passiert ist. Sowohl mit schönen und atemberaubenden Aussichten als auch mit den Tiefen, den tragischen Momenten und Erfahrungen. Die beiden Brüder, an deren Emotionen und Zweifel ich uns erinnern möchte, mussten dies genau verstanden haben. Wir finden ihre Geschichte bereits am Anfang der Bibel.

Ihre Vergangenheit war schwierig. Es gab Jakobs Betrug und Esaus zerreißenden Schrei der Wut. Die ausgestreckte Hand nach dem nicht gebührenden Segen sowie das spätere Leben eines Menschen, der von Gewissensbissen und einer wiederkehrenden Angst vor Rache gequält wird. Und dennoch gestalten die Brüder ihre Geschichte zu einer der schönsten und erquickenden Momentaufnahmen der Bibel. Es ist die Geschichte von aufrichtiger und tief empfundener Versöhnung und Vergebung.

Jakob hob seine Augen auf und sah seinen Bruder Esau kommen mit vierhundert Mann. Und er (…)  neigte sich siebenmal zur Erde, bis er zu seinem Bruder kam. Esau aber lief ihm entgegen und herzte ihn und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und sie weinten. (1.Mose 33:1a;3b-4)

Zwei Männer, die sich vor Jahren entzweit haben, weinen mitten in der Wüste, denn sie haben erkannt, welch eine Last sie gerade vom Rücken geworfen haben und was für eine wertvolle und notwendige Geste Versöhnung ist. Der alte Groll hat ihr ganzes Leben überschattet, aber jetzt können sie frei von dessen Last weitergehen. 

Liebe Freunde, unsere Völker, Polen und Deutsche,  verfolgen ebenso die Spuren einer schwierigen Vergangenheit. Niemand kann diese Spuren verwischen, und wir alle sind uns dessen bewusst. Aber hinter uns liegt auch ein Meer von Tränen, die im Namen der Versöhnung vergossen wurden und die der erste Schritt auf einem gemeinsamen Weg waren. Wir haben uns gegenseitig in die Arme genommen, im Namen der Vergebung. Wir sprachen Worte aus, die uns wichtig waren. Am 1. Oktober 1965 - die oft übergangene Ostdenkschrift der EKD - , am 18. November 1965 – der Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe -, am 7. Dezember 1970 - der Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt am Denkmal der Ghetto-Helden - eine Geste von historischer Bedeutung, die wir langsam vergessen! Und schließlich am 12. November 1989 - die Versöhnungsmesse in Krzyżowa/Kreisau, oder das Gedenken an dieses Ereignis, wie im Falle des 25. Jahrestages der Versöhnungsmesse, ein ökumenisches Gebet am symbolischen Ort – in der evangelischen Friedenskirche in Świdnica/Schweidnitz - unter Beteiligung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsidentin Ewa Kopacz. Das sind zweifellos Elemente der gemeinsamen Vergangenheit, auf die wir in unseren Beziehungen ständig zurückgreifen sollten.

Die Suche nach Kontakten, Vergebung, Versöhnung und Zusammenarbeit heilen Krankheiten, die noch heute wie Epidemien ausbrechen. Wir leben in einer Welt, in der viele lieber zum Leid als zur Freude zurückkehren und sich eher an Unglück als an Momente der Versöhnung erinnern. Es ist jedoch unmöglich, darauf aufzubauen, was Jakob und Esau bestätigen könnten. Wenn wir gemeinsam Christus nachfolgen, lernen wir Demut, die uns ermöglicht, das Große als das Große und das Kleine als das Kleine zu erkennen. Sein Wort hat die Kraft, alles in einem Moment zu verändern. Er ist die Quelle des Mutes zur Versöhnung, zum Bauen von Brücken und zum Frieden. Diese verändernde und erneuernde Kraft ist im Wort Gottes verborgen, bis wir es hören, annehmen und in die Tat umsetzen.

Paulus sagt in seinem zweiten Brief an die Korinther: „ Ist jemand in Christus ist, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden (2. Korinther 5,17), und wenn es so ist, so schreibt derselbe Apostel im zweiten Teil des Briefes an die Philipper: „Wenn es also eine Ermahnung in Christus gibt, einen Trost der Liebe, wenn eine Gemeinschaft des Geistes, wenn Barmherzigkeit und Erbarmen, dann erfüllt meine Freude, daß ihr eines Sinnes seid, dieselbe Liebe habt, einmütig und einträchtig“. 30 Jahre nach der Versöhnungsmesse, dem Fall der Berliner Mauer, den halb-freien Wahlen in Polen, die zum Zerfall des kommunistischen Systems in Europa beitrugen, müssen wir uns fragen, was wir heute bauen und welches Zeugnis wir in einer Welt ablegen sollten, in der Kampfsucht, Unverständnis, Trennung und Hass aufs Neue erstarken. Die Welt ruft uns und fordert uns heraus. Manchmal verhält sich die Welt so wie  ein Kind, das hartnäckig ins Unbekannte geht und schreit, dass es keine Hilfe mehr braucht. Je mehr es sich dagegen wehrt, je mehr Hilfe braucht es in Wirklichkeit. Die Welt braucht die Kirche und vor allem die Welt braucht Christus. Die Bedrohungen sind real und wir spüren sie immer öfter. Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege, entstehen sowohl in Polen als auch in Deutschland nationalistische Bewegungen und entwickeln sich. Nach dem Blutvergießen im Namen der reinen Rasse erwachen Anhänger alter und schrecklicher Ideologien. Nach Jahren der geschlossenen Grenzen schließen wir selbst diese Grenzen, um uns von denen durch Mauern zu trennen, denen wir helfen könnten. Auf Gottes Erden breitet sich der Schatten der Zwietracht immer mehr aus.

Der Apostel Paulus beginnt seinen Gedanken sehr spezifisch: Wenn es in Christus eine Ermutigung gibt.... Natürlich gibt es Ermutigung in Christus. Nicht nur das! In Christus gibt es ein Vorbild. Schließlich ist es Gott, der in die Welt geboren wurde, um unser Schicksal zu erfahren. Gott, der mit Barmherzigkeit und Fürsorge auf die Kleinsten der Welt schaut, die von der Welt oft abgelehnt werden. Gott, für den es keine religiösen oder konfessionellen Grenzen gibt, nimmt jeden an - unabhängig davon, ob jemand Jude, Samariter, Altgrieche oder moderner Europäer ist. Ein Gott, der die Menschen so sehr liebt, dass er für sie am Kreuz stirbt. Er kommt, um Seelen zu heilen, nicht um sie zu richten und abzulehnen. Gott, der die Liebe ist und uns die Liebe lehrt. Wenn es Ermutigung gibt, mit anderen Worten, wenn Seine Liebe heute unsere in ökumenischer Gemeinschaft vereinten Herzen berührt, dann müssen wir handeln!

Wir freuen uns, dass die symbolische Umarmung der Versöhnung gute Früchte erbracht hat und erbringt, wie die Arbeit der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung beweist. Unseren aufrichtigen und herzlichen Dank verdienen vor allem die Mitarbeiter und Freiwilligen, die Mitglieder der Gremien, für ihre tägliche Mühe in der Gestaltung nicht nur der deutsch-polnische Beziehungen, sondern auch für den Blick nach Osten. Es ist unsere Pflicht und unsere Aufgabe.

Sehr geehrte Damen und Herren! Alles begann in Polen mit der "Solidarność", die viele europäische Länder von den Fesseln des Kommunismus befreite. In solch schwierigen Zeiten möchte ich uns ermutigen, bei der Arbeit der Friedensförderung und Versöhnung Solidarität zu zeigen. Wir sind ermutigt, dies an diesem Jubiläumstag durch die Worte Christi aus der Bergpredigt zu tun: Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen. (Mat 5,9).

 

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