Ehe uns unser Juni beschert wurde, vergingen ein paar Monate, die plötzlich in Polen in einem beschleunigten Tempo zu verfließen begannen.

Um die Umstände, unter denen die Stiftung Kreisau entstand, zu verstehen, muss man kurz auf die Atmosphäre jener Zeit eingehen. Nach den tristen Jahren der grauen und plumpen kommunistischen Herrschaft der 1980er Jahre passierten allmählich wichtige und überaus interessante Dinge. Alle diskutierten fieberhaft über die politischen Veränderungen und fragten sich, wie es nun wohl weitergehen werde. Die Wirtschaft im Lande lag darnieder. In der Sowjetunion führte Gorbatschow die Perestroika ein, im Baltikum bildeten sich allmählich zivilgesellschaftliche Bewegungen heraus, in Ungarn wurde das Recht auf Vereinigungsfreiheit beschlossen (ein im Kommunismus unbekanntes Phänomen), in den USA war Ronald Reagan Präsident, der sich zum Ziel gesetzt hatte, den Kommunismus zu besiegen. Es gab zwei deutsche Staaten, in der DDR wuchs aber der Unmut, es kam zu ersten Protesten und zu Verhaftungen. In Polen brachen wiederum nach der dunklen Nacht des Kriegsrechts immer wieder Streiks aus, und es war klar, dass da etwas in der Luft lag. Die Machthaber knickten ein und erklärten sich dazu bereit, mit der Opposition am Runden Tisch zusammenzukommen, an dem dann die ersten freien Wahlen, Pressefreiheit und viele andere Dinge vereinbart wurden, die niemand für möglich gehalten hatte. Es war sehr viel los, und alles ging sehr schnell. Zeitungen wurden von einem Tag auf den anderen spannend, was früher nicht vorkam. Die Diskussionen der Polen nahmen kein Ende, man debattierte bis in die späten Nachtstunden hinein.

Unmittelbar vor Beginn der Verhandlungen am Runden Tisch (Februar 1989) ging bei dem Breslauer Klub der Katholischen Intelligenz (KIK) ein Brief von Pater Adam Żak ein. Darin fragte er nach dem in der Gemeinde Grodziszcze, im Landkreis Świdnica, gelegenen Anwesen Kreisau. Es wurde anfangs mühsam nach jemandem gesucht, der etwas über den Ort wissen könnte (auf vielen Landkarten war das Dorf nicht zu finden), und nach Leuten, die dort einst gewohnt haben. Michał1 suchte zunächst einmal zu Hause, wobei er seinen Vater und andere beim KIK ausfragte. Dann fuhr er mit der Wieczorynka2 nach Ostberlin zu Ludwig3 , der wegen seines oppositionellen Engagements in der DDR praktisch alle kannte und dessen Name viele Türen öffnete. Ludwig brachte sie mit Deutschen zusammen, die die Idee hatten, dass man da etwas in Kreisau machen müsste, sprich mit Prof. Ullman, Stephan Steinlein und Wolfgang Bürger. Nach ihrer Rückkehr nach Breslau nahmen die Dinge immer schneller ihren Lauf. Zunächst besuchten Stephan und Wolfgang den KIK und erzählten ein bisschen über den Kreisauer Kreis. Dann wurden Briefe in verschiedene Himmelsrichtungen verschickt, und die Telefone fingen an zu klingeln. (An dieser Stelle eine kleine Erläuterung: Am besten war es, die Auslandsbriefe – wegen der Briefzensur – über Bekannte, die in den Westen reisten und dort den Brief in einen Briefkasten werfen konnten, zu versenden. Auf angemeldete Telefonverbindungen musste man wiederum stunden- oder gar tagelang warten). Es wurden Rücksprachen gehalten, konsultiert wurden u. a. Karol Jońca und Pfarrer Bolesław Kałuża4, und dann kam man zu dem Schluss: Wir machen eine internationale Konferenz. Es galt, sich um die Logistik zu kümmern: Eine Genehmigung vom Innenministerium musste eingeholt werden. Für jede internationale Tagung war eine solche Genehmigung zu beschaffen, die dann – sofern sie erteilt wurde – bei den Veranstaltern ein paar Tage vor dem geplanten Termin einging. Deshalb wurde dem Innenministerium ein Termin im April genannt, in unseren Einladungen war hingegen vom 2.-4. Juni 1989 die Rede. Es galt, Kontaktdaten zu potentiell Interessierten zusammenzutragen, Einladungen zu verschicken – abermals, am besten über Bekannte, die in den Westen reisten –, sich um Übernachtungsmöglichkeiten zu kümmern (hauptsächlich zu Hause bei Klubmitgliedern, bei Verwandten und Bekannten) sowie die Verpflegung für die Teilnehmer zu organisieren (In einem Land, in dem in den Ladenregalen nur Essig stand, war das schon eine echte Herausforderung!). Die Anlaufstelle wurde im Haus der Familie Czapliński eingerichtet, das günstig auf dem Weg von der Autobahn ins Stadtzentrum gelegen war. All das bedurfte eines großen Einsatzes. Nur mit Mühe gelang es uns, mit den parallel eintretenden Ereignissen in Polen Schritt zu halten, wo die ersten freien Wahlen zum Senat und beinahe freien Wahlen zum Sejm bevorstanden, an deren Durchführung viele KIK-Mitglieder beteiligt waren.

Parallel dazu starteten unsere Freunde in Deutschland, die dem Bensberger Kreis5 nahestanden, ihre Treffen und nahmen Briefkontakt mit verschiedenen Behörden auf.
Und dann war es soweit – der Tag im Juni, an dem die Gäste nach und nach eintrafen. Zunächst meldeten sie sich in der Anlaufstelle, wo sie von anderen Konferenzteilnehmern begrüßt wurden. Wir waren ja am Tagungsort beschäftigt, d. h. am Sitz des Breslauer Klubs der Katholischen Intelligenz, am Marx-Platz (nach 1989 in Strzelecki-Platz umbenannt) Nr. 22, wo Frau Dr. Ewa Unger6 das Sagen hatte, oder wir waren gerade in der Stadt unterwegs und halfen beim Transport. Bei einer Fahrt durch die Stadt fiel mir ein ulkiges gelbes Auto – ein Kleinbus – auf. Am Steuer saß ein ganz ergrauter Wichtel, und neben ihm seine ebenso ergraute Frau. Da sie eine Karte in alle möglichen Richtungen hin und her drehten und dabei verloren wirkten, sprach ich sie an und fragte, ob sie nicht zufällig zu der Konferenz gekommen seien. Es stellte sich heraus, dass es Wim und Lin7 – absolut bezaubernde Niederländer – waren. Außer ihnen erschienen bei der Tagung auch Amerikaner sowie Deutsche aus beiden Teilen Deutschlands und aus Westberlin. In vielen Fällen handelte es sich dabei um Leute, die sich aus Erzählungen oder Publikationen kannten, aber erst die Reise nach Polen bot ihnen die Möglichkeit, einander direkt zu begegnen (Die Deutschen aus der DDR durften mit dem Westen keine ungehinderten Kontakte unterhalten.). Dies war einer von vielen ungewöhnlichen Aspekten dieser Konferenz.

Das Hauptthema der Konferenz war der Kreisauer Kreis, der Titel der Veranstaltung lautete aber „Christ in der Gesellschaft”, was eine Anknüpfung an das Buch „Ein Christ im Dritten Reich“ über Pfarrer Bonhoeffer war, das Anna Morawska geschrieben hatte. Scheinbar nur ein sehr lockerer Zusammenhang, wobei die Gestalt Bonhoeffers was die Haltung angeht sehr nah beim Kreisauer Kreis ist. Für uns, die im Kommunismus aufgewachsen sind, war freilich die von Prof. Bartoszewski beschriebene Haltung des Anstandes unter extremen Bedingungen wichtig. Der Kommunismus war keine so extreme Zeit wie der Nationalsozialismus (obwohl er auch grausam sein konnte), er brachte aber umso mehr die Versuchung des Konformismus8 mit sich . Was uns beindruckte, waren Weitsicht, Treue gegenüber Werten und das volle Vertrauen in Gott und in seine Entscheidungen, die die Mitglieder des Kreisauer Kreises auszeichneten.

Die ganze Geschichte des Kreises schien uns absolut außergewöhnlich zu sein, wir kamen uns ein wenig wie in einem Hollywoodfilm vor, die ganze Geschichte verdient es ja, in Hollywood verfilmt zu werden.

Und im Hintergrund des Ganzen spielte sich die große Geschichte ab. Ein System war im Begriff, unterzugehen, und der Europäische Frühling brach an. Alles raste noch schneller dahin. Auch für Kreisau.

Maryna Czaplińska – Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung
Michał Czapliński – Mitglied des Ehrenrates  der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung



[1] Michał Czapliński
[2] Joanna Wieczorek- Doebler
[3] Ludwig Mehlhorn
[4] An dieser Stelle eine kleine Geschichte zum verstorbenen Pfarrer Kałuża und zu Freya von Moltke: Als Freya 1988 bei einer Tagung in den USA die Sache mit Kreisau aufgriff  – und auch später, als die Frage der Teilnahme eines Vertreters der Familie von Moltke bei der Heiligen Messe, an der Ministerpräsident Mazowiecki und Kanzler Kohl teilnehmen sollten, aufkam –, erwähnte sie mit keinem Wort, dass sie Kreisau ziemlich regelmäßig besuche und dass sie herzliche Kontakte zu Pfarrer Kałuża unterhalte. Sie wartete geduldig, bis die Polen selbst sie nach Kreisau einladen.
[5]  Es handelte sich dabei u. a. um Auwi und Maria Heckt sowie Irngard und Bernd Ammermann.
[6] Dr. Ewa Unger – Vorsitzende des Breslauer Klubs der Katholischen Intelligenz (KIK) 
[7] Wim und Lin Leenmann
[8] Jerzy Kisielewski pflegte in diesem Zusammenhang Folgendes zu sagen: "Dass wir im Arsch sind, ist klar. Das Problem ist, dass wir dabei sind, uns allmählich darin einzurichten."


 

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